Naga Textiles – Design, Technique, Meaning and Effect of a Local Craft Tradition in Northeast India

Autor/en: Marion Wettstein
Verlag: Arnoldsche Art Publishers
Erschienen: Stuttgart 2014
Seiten: 368
Ausgabe: illustrierter Halbleinenband
Preis: € 58,00
ISBN: 978-3-89790-419-4
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2015

Besprechung:
Dissertationen sind schwer ins Gerede gekommen. Waren es im analogen Zeitalter Druckschriften, die in Kleinstauflagen auf ausgesuchte öffentliche Bibliotheken verteilt wurden, um dort allenfalls für nachfolgende Doktoranden als Materialquellen zu dienen, stehen sie heute im digitalen Netz jedermann zur Verfügung, ein grandioser Fortschritt für die Wissenschaft und ein Risiko für all jene, die es mit der eigenen wissenschaftlichen Leistung und dem Zitiergebot nicht so genau genommen haben. Ob nun Suchprogramme zur Auffindung von Plagiaten prominenter Titelträger und die mediale Auseinandersetzung um Wert und Unwert von Person und Leistung sinnvoll sind oder nicht, soll hier nicht weiter erörtert werden. Hier geht es vielmehr um eine Dissertation, die total aus dem Raster aktueller Dissertationsproblematik fällt und das aus mehreren Gründen: Die Ethnologin Marion Wettstein gehört sicherlich nicht zur Prominenz im landläufigen Sinn, ihre Dissertation ist in einem international renommierten Kunstbuchverlag publiziert und das Thema, die Textilien der Naga, ist so exotisch, dass jedes Plagiatsprogramm kläglich scheitern muss.

Das Buch über die Textilien der Naga von Marion Wettstein ist nach „Naga Identitäten – Zeitenwende einer Lokalkultur im Nordosten Indiens“ (Gent, Zürich und Wien 2008) und Alban von Stockhausens „Imag(in)ing the Nagas – The Pictorial Ethnography of Hans-Eberhard Kauffmann and Christoph von Fürer-Haimendorf“ (Stuttgart 2014) – die Rezensionen sind im Archiv der Buchbesprechungen dieser Website nachzulesen – nun schon die dritte Publikation im Rahmen eines von Professor Michael Oppitz initiierten und geleiteten Forschungsprojektes des Völkerkundemuseums Zürich unter dem Titel „Material Culture, Oral Traditions, and Identity among the Nagas of Northeast India“. Hier nun geht es um Textilien als Bestandteil der materiellen Kultur. Textilien sind noch vor Schmuck, Ritualobjekten und Architektur gewiss die wichtigsten Träger materieller Kultur indigener Völker oder Stämme, nicht nur der Nagas sondern weltweit. Auch wenn der provokante Titel „Die nackten Nagas“ des ethnologischen Bestsellers von Christoph von Fürer-Haimendorf (Leipzig 1939) für dieses Volk etwa anderes impliziert, so waren die Nagas, jenes von Kopfjägermythen umwitterte Volk in der schwer zugänglichen und ein halbes Jahrhundert komplett verbotenen Grenzregion zwischen Indien und Burma, keineswegs nackt, sondern verfügten über eine sehr eigenständige textile Kultur mit strengen, abstrakt geometrischen Mustern. Das oft minimalistisch anmutende Design dieser Textilien aus Flächen, Linien und Streifen, dominiert vom Kontrast der Farben Rot, Blau, Schwarz und Weiß, ist so ganz anders als die fast barocke textile Vielfalt Indiens oder auch Burmas, dass man die ethnologische Neugier der Autorin Marion Wettstein, die Sprache und die kulturelle Bedeutung dieser Textilien zu entschlüsseln, gut verstehen kann. Grundlage der mehr als zehnjährigen Forschungsarbeit war die mit mehr als 4000 Naga-Textilien weltweit bedeutendste Sammlung des Pitt Rivers Museums in Oxford, zahlreiche weitere öffentliche und private Kollektionen in aller Welt, das Studium einschlägiger Literatur, vor allem aber die eigene Feldforschung vor Ort. Die Erkenntnisse aus diesen logistisch oft beschwerlich gestalteten Aufenthalten, die Begegnungen und Freundschaften mit Alten und Jungen und das Entdecken bewahrter und erneuerter Traditionen haben es der Autorin ermöglicht, die erste umfassende und systematische Übersicht über Naga-Textilien vorzulegen. In vier Abschnitten werden zunächst Muster und Design vorgestellt, dann die Webtechnik nebst weiteren Besonderheiten der Herstellung, ihre Bedeutung und die Botschaften, die sie vermitteln und schließlich ihre Fortwirkung in der Gegenwart. Bedeutung und Botschaft, der Ausdruck von Status und sozialer Struktur, kurz die Entzifferung der Sprache der Naga-Textilien, sind der zentrale Teil des Buches, der weit über das textile Thema hinaus einen Einblick in die kulturellen und sozialen Verhältnisse der Naga-Gesellschaft gewährt. Männerschals und Frauenhemden erzählen durch Gestaltung und Dekor über Reichtum und Ansehen, über den Status als Kopfjäger und die Stellung von Mann und Frau im Clan und im Dorf.

Einige Besonderheiten des Buches sind hier hervorzuheben: Die Illustrationen der Naga-Textilien sind keine Fotografien, sondern ausschließlich Farbstift- und Aquarellzeichnungen. Die Gründe und Vorzüge dieser heute ungewöhnlichen Darstellungsweise werden von der Autorin ausführlich erläutert, wobei ihr Argument, dass man ein Objekt intensiver wahrnimmt, wenn man es nicht fotografiert, sondern zeichnet, natürlich überzeugt. Typische Gestaltungsdetails, die erst die Sprache der Textilien ausmachen, können so weit besser dargestellt werden, als dies Fotos individueller Einzelstücke vermögen. Die für ein solches Buch eher geringe Anzahl von etwa 60 abgebildeten Textilien wird kompensiert durch ein beigefügtes, gefaltetes Riesenposter mit 152 Naga-Textilien – natürlich wieder in Aquarell- und Farbstifttechnik – das das gesamte Spektrum dieser geometrisch-textilen Kunstform übersichtlich vor Augen führt. Die zweite Besonderheit ist der Abschnitt über die Fortwirkung alter Textilkultur im modernen Nagaland. Fotos von Modeevents mit attraktiven Models im Outfit für Alltag und für festliche Gelegenheiten zeigen, dass die Tradition der minimalistisch-geometrischen Textilmuster noch heute lebendig ist. Und drittens ist hervorzuheben, dass es der Autorin Marion Wettstein gelungen ist, dem Leser durch ihren persönlichen Stil nicht nur das Thema ihrer Arbeit nahe zu bringen, sondern auch einen Einblick in die Tiefe und Ernsthaftigkeit ihrer Forschungsarbeit zu vermitteln und bewusst zu machen, wie sehr diese Arbeit über einen langen Zeitraum zu einem Teil ihres Lebens wurde. Arnoldsche Art Publishers ist zu danken, dass dieses Engagement in vorbildlicher Form einer breiten Öffentlichkeit nahe gebracht wird – kurz: Der Idealfall einer Disseration – summa cum laude.

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