Marokkanische Teppiche und die Kunst der Moderne

Autor/en: Jürgen Adam, Florian Hufnagl
Verlag: Die Neue Sammlung und Arnoldsche Art Publishers
Erschienen: München und Stuttgart 2013
Seiten: 440
Ausgabe: Halbleinen
Preis: € 68,00
ISBN: 978-3-89790-399-9
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2013

Besprechung:
Erst vor wenigen Tagen wurde der diesjährige Nobelpreis für Physik an den Belgier Franҫois Englert und den Briten Peter Higgs verliehen. Beide haben aufgrund ihrer voneinander völlig unabhängigen Forschungen schon in der 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Existenz eines der wichtigsten Bausteine des Universums vorausgesagt, dessen tatsächliche Existenz erst ein halbes Jahrhundert später im Genfer Forschungszentrum CERN nachgewiesen werden konnte. Es war nicht der erste Mal, dass der Nobelpreis an Wissenschaftler verliehen wurde, die voneinander nicht wussten und zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten identische Erkenntnisse gewannen. Solche Phänomene beschränken sich indes nicht auf die Naturwissenschaften, es gibt sie auch im ästhetischen Bereich. So ist beispielsweise die Verwandtschaft, mehr noch: die Übereinstimmung eines Gemäldes von Mark Rothko aus dem Jahre 1957 mit einem von einer anonymen Weberin aus dem marokkanischen Stamm der Beni Zenmour etwa zeitgleich geknüpften Teppich verblüffend. Die Reihe solcher Gegenüberstellungen von marokkanischen Teppichen und Werken der abstrakten Kunst, beispielsweise von Antonie Tåpies, Wassily Kandinsky, Rupprecht Geiger, Kasimir Malewitsch oder Barnett Newman, ein zeitweiliger New Yorker Weggefährte von Rothko, lässt sich unschwer noch verlängern. Der Münchner Architekt Jürgen Adam, dessen Sammlung marokkanischer Teppiche zur Zeit in der Pinakothek der Moderne in München ausgestellt ist (vom 14. September 2013 bis zum 5. Januar 2014), formuliert aufgrund dieser wirklich verblüffenden Ähnlichkeiten in seinem Katalogbuch die These, dass sich Malerei und Grafik europäischer und amerikanischer Künstler und marokkanische Teppiche gegenseitig unmittelbar beeinflusst haben. Sein Versuch, diese Thesen auch zu belegen, scheitert indessen. Es gibt auch nicht die Spur einer Wahrscheinlichkeit, dass die Frauen der Nomaden und Bauern in den Oasen und entlegenen Gebirgsdörfern Marokkos, die diese erstaunlichen Teppiche geknüpft und nicht minder interessante Textilien gewebt haben, Zugang zu moderner westlicher Kunst hatten oder haben. In umgekehrter Richtung ist die Situation etwas komplexer, war doch auch der Maghreb seit dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Tourismus und der Faszination des Orients ein beliebtes Ziel von Reisenden, Abenteurern und auch Malern. Doch sie besuchten die städtischen Zentren und die Küstenlandschaften von Tunesien, Algerien und Marokko und eine Begegnung mit nomadischen Textilerzeugnissen ist eher unwahrscheinlich und in keinem Fall nachgewiesen. Unterlagen über die Reise von Klee, Macke und Moilliet in Tunesien belegen zwar den Eindruck von Licht und Farbe auf das künstlerische Auge, auch den Einfluss der kubischen Lehmarchitektur auf den zunehmend abstrakten Bildaufbau – von Textilien aber ist nirgends die Rede. So muss man wohl feststellen, dass die verblüffenden Ähnlichkeiten, die gemeinsame Eignung des marokkanischen Teppichs und der Werke der abstrakten Moderne, durch eine Komposition von Farbe, Fläche und Rhythmus Gefühle und Gedanken auszudrücken dem bekannten Phänomen zuzuordnen ist, dass immer wieder zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften vergleichbare Ergebnisse entstanden sind. Dies deckt sich mit der Auffassung von Heinz Meyer, dass alle künstlerische Produktion nichts anderes ist als eine fortlaufende Registrierung des großen Auseinandersetzungsprozesses in dem sich Mensch und Außenwelt seit Anbeginn der Schöpfung und in aller Zukunft befinden. Und so faszinierend ein gegenseitiger Einfluss auch wäre: Es gibt keine Verbindungen zwischen der Welt des Orientteppichs und der des Minimalismus in der modernen Kunst; jegliche Spekulation über Zusammenhänge ist vordergründig und negiert die theoretischen Grundlagen der minimal art einerseits und die Gründe für eine ästhetische Reduktion orientalischer Gewebe – die wir im übrigen nicht nur beim marokkanischen Teppich finden, sondern auch bei geknüpften oder gewebten Erzeugnissen aus Anatolien, Tibet, dem Iran und aus Usbekistan. Werner Brüggemann hat das in seinem wundervollen Essay über die Macht des Einfachen (in „Der Orientteppich – Einblicke in Geschichte und Ästhetik“, Wiesbaden 2007) überzeugend dargelegt. Die engagierte Suche von Jürgen Adam nach Zusammenhängen zwischen seinen geliebten marokkanischen Teppichen und der Kunst der Moderne soll damit keineswegs kritisiert oder gar entwertet werden. Sein auf einer umfassenden Kenntnis moderner Kunsttheorie beruhendes Plädoyer für den marokkanischen Teppich als Kunstwerk ist vielmehr eine Bestätigung von Brüggemanns These, dass sich erst vor dem Hintergrund moderner Kunst die Ästhetik des Einfachen bei der Akzeptanz des Orientteppichs als Kunstwerk entwickeln konnte. Erst die Sehschulung der abstrakten Malerei hat den Westen in die Lage versetzt, auch die ästhetisch reduzierten Teppiche der Bauern und Nomaden als textile Kunst zu erkennen. Beim marokkanischen Teppich hat das lange gedauert. Es war die von dem Doyen österreichischer Textilforschung Wilfried Stanzer organisierte erste internationale Konferenz über den marokkanischen Teppich im Jahre 1995 in Marrakesch, durch die der marokkanische Teppich diesen Status erreicht hat. Jürgen Adam war ihm damals schon verfallen und hat in einem Vortrag in Marrakesch die in der Abstraktion verborgene Vielfalt künstlerischen Ausdrucks gewürdigt. Mit dem jetzt vorliegenden Buch sind wir in der Lage, nicht nur einen wesentlichen Teil seiner wohl aus über 400 marokkanische Teppiche bestehenden Sammlung kennen zu lernen, sondern auch an seinem umfassenden Wissen über Wolle und Knüpftechniken, über Farben und Webstühle, über die Zuordnung der Teppiche zu Regionen und Stämmen und vor allem über die im vermeintlich Abstrakten versteckten Symbole und Zeichen in einer archaischen, noch vom Animismus geprägten Welt teilzuhaben. Es ist die Individualität – schreibt Jürgen Adam – und die immer wieder überwältigende Improvisationslust, von der nahezu perfekten Geometrie bis zur völligen Freiheit von Formen und Farben und deren Kombination, die zu einer unerschöpflichen Vielfalt von Textilien in Marokko geführt hat. Es ist ein bedeutender Schritt, dass mit dieser Ausstellung eine faszinierende Gattung des orientalischen Teppichs in der Pinakothek der Moderne angekommen ist.

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