Mittelalterliche Textilien III – Stickerei bis um 1500 und figürlich gewebte Borten

Autor/en: Evelin Wetter
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2012
Seiten: 364
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: CHF 280,00
ISBN: 978-3-905014-50-1
Kommentar: Michael Buddeberg, Juni 2012

Besprechung:
Sammlungen von mittelalterlichen Paramenten, also liturgische Gewänder und andere, gottesdienstlichen Zwecken dienende Textilien, erwartet man am ehesten in den Sakristeien und Schatzkammern alter Dome und Kirchen. Und in der Tat waren es solche Kirchenschätze, die im vergangenen Jahrzehnt mit einer Reihe von Publikationen in deutscher Sprache mittelalterliche Paramente einem größeren Leser- und Liebhaberkreis erschlossen haben. Den Reigen eröffnete Karen Stolleis mit einem Überblick über Messgewänder aus deutschen Kirchenschätzen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Regensburg 2001). 2005 folgte ein Prachtband mit den liturgischen Gewändern im Dom zu Brandenburg (Regensburg und Riggisberg), und 2008 wurden die Paramente aus Stralsund (Riggisberg) und der einzigartige Schatz aus dem Dom zu Halberstadt (Regensburg) publiziert. Allesamt sind dies sorgfältige wissenschaftliche Editionen mit hervorragenden Abbildungen, doch der eher zufällige Bestand solcher Kirchenschätze vermochte es nicht, ein repräsentatives, alle Zeiten und alle Provenienzen mittelalterlicher Textilien erfassendes Gesamtbild zu zeichnen. Die großen, schon im 19. Jahrhundert entstandenen Textilsammlungen der kunstgewerblichen Museen in Paris, London und Wien, auch wenn sie ursprünglich nur als Vorbildsammlungen für die gewerbliche Wirtschaft konzipiert waren, vermögen diesen Anspruch zwar besser zu erfüllen, doch auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand befindliche Kataloge fehlen hier und sind angesichts der Finanzlage europäischer Museen auch nicht zu erwarten. So kommt der nunmehr 6. Band der Bestandkataloge der Abegg-Stiftung, zugleich Band drei der Mittelalterlichen Textilien, der mit Stickerei bis etwa zum Jahre 1500 und mit figürlich gewebten Borten den Bereich mittelalterlicher Paramente (mit Ausnahme der Reliefstickerei) abdeckt, zur rechten Zeit um hier einen Meilenstein der Textilliteratur zu setzen. Die 66 vorgestellten Objekte der Sammlung decken die Zeit vom 12. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ab und umspannen einen geographischen Bereich von Sizilien bis Großbritannien und Schweden und von Spanien bis nach Ungarn. Auch wenn die Abegg-Stiftung, entsprechend ihrer, den historischen Textilien gewidmeten Zweckbestimmung, den Bestand mittelalterlicher Textilien seit ihrer Gründung im Jahre 1961 weiter ausgebaut hat, so geht der Kern der Stickerei- und Paramentensammlung doch auf den schon in jungen Jahren konsequent und mit Kunstverstand sammelnden Werner Abegg (1903-1984) zurück. Für Werner Abegg stand das Textil als Kunstwerk im Vordergrund, und so ist die Sammlung neben der Breite der Herstellungsprovenienzen und Objekte – es sind annähernd sämtliche Typen von Paramenten vertreten – vor allem durch hohe ästhetische Qualität der fast ausnahmslos figürlichen Stickereien und Gewebe geprägt.

Das Buch entspricht in seiner handwerklichen Qualität, der Zweiteilung in Einführung und Katalog mit ausführlichem Anhang einschließlich einer Übersetzung der einführenden Texte in die englische Sprache und einem auf das Thema bezogenen Glossar, vor allem aber in seiner wissenschaftlichen Tiefe dem hohen Anspruch der Abegg-Stiftung, der bereits die vorangegangenen Bände der Bestandskataloge geprägt hat. Der genauen Beschreibung jedes einzelnen Objekts nach Dekor, Technik und Material, Erhaltungszustand und Angaben über den Erwerb und eventuelle Vorveröffentlichungen folgt jeweils ein Kommentar, der das beschriebene Stück nicht nur in textilgeschichtlicher Sicht behandelt, sondern auch kunst- und kulturhistorische Zusammenhänge erschließt. In diesen, über das gewohnte Maß hinausgehenden Kommentaren liegt die eigentliche und bewunderungswürdige Leistung der Autorin Evelin Wetter, Konservatorin der Abegg-Stiftung und Privatdozentin an der Universität Leipzig . Fast wie ein roter Faden zieht sich durch diese ausführlichen Texte die Feststellung und das Problem, dass beim Erwerb der Textilien im 20. Jahrhundert, in aller Regel aus dem Kunsthandel, der originäre Überlieferungszusammenhang längst verloren war, dass also die ursprüngliche Nutzung der gestickten oder gewebten Textilien als Stab oder Kreuz einer Kasel, als Besatz eines Pluviale oder einer Dalmatika nicht mehr bekannt und auch nicht mehr rekonstruierbar ist. Bestenfalls lassen sich manche der Objekte in eine Privatsammlung des 19. Jahrhunderts oder auf einen bestimmten Händler zurückführen – hier taucht immer wieder der Kanonikus Franz Bock (1823-1899) auf. Nur ganz selten, wie etwa bei dem in England im späten 13. Jahrhundert bestickten Pluviale mit der Wurzel Jesse reicht die bekannte Geschichte etwas weiter zurück und das ist spannend genug: Das Pluviale befand sich am Ende des 16. Jahrhunderts nachweisbar im Salzburger Dom, wurde dann an die ländliche Filialkirche St. Martin abgegeben, wo es bis zum 18. Jahrhundert in Gebrauch war. Erst im 19. Jahrhundert wurde der historische Wert dieses kunstvollen Textils erkannt und ihm mit der Rückgabe an die Mutterkirche Rechnung getragen. 1930 erfolgte dann in einer Zeit großer finanzieller Not der Verkauf an das Österreichische Museum für Kunst und Industrie in Wien (heute MAK), das es nur ein Jahr später an den Kunsthandel, nämlich an Bernheimer in München abgab, wo es Werner Abegg noch im gleichen Jahr erwarb. Auch hier bleibt also eine Lücke von einigen hundert Jahren. Wie die Autorin diese Provenienzlosigkeit unter Heranziehung von Vergleichsstücken aus anderen Sammlungen, mit Beispielen aus der Buch- oder Tafelmalerei auflöst, um schließlich mit zusätzlicher Hilfe einer ikonographischen Deutung eine annähernde Datierung und Lokalisierung vornehmen zu können, ist hochinteressant und spannend zu lesen, ist textilwissenschaftliche Detektivarbeit auf höchstem Niveau. Natürlich bleibt vieles spekulativ, etwa wenn die Autorin die Herstellung der überstickten, brettchengewebten Borte aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert in dem Kloster der Dominikanerinnen St. Gertrud in Köln für möglich hält. Doch aus solchen wohlbegründeten Spekulationen ergeben sich die Teile eines Puzzles, zu denen irgendwann andere Teile passen, bis schließlich ein Bild zu entstehen beginnt. Der Vollständigkeit halber: Den figürlichen Stickereien, 36 an der Zahl, der erwähnten singulären Brettchenborte, die sich durch ein komplementäres Ineinandergreifen eines figürlich gewebten und gestickten Dekors auszeichnet und die daher durchaus als ein Vorläufer der so genannten Kölner Borten angesehen werden kann, folgen 11 Exemplare dieser in Samittechnik gewebten Borten aus dem Köln des 15. Jahrhunderts, während 19 Florentiner Borten, hergestellt in Lampasweberei vom späten 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert, den Reigen mittelalterlicher Paramente beschließen.

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