Der hl. Severin von Köln – Verehrung und Legende – Befunde und Forschungen zur Schreinöffnung von 1999

Autor/en: Joachim Oepen, Bernd Päffgen, Sabine Schrenk, Ursula Tegtmeier (Hrsg)
Verlag: Verlag Franz Schmitt
Erschienen: Siegburg 2011
Seiten: 602
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: € 49,–
ISBN: 978-3-87710-456-9
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2011

Besprechung:
‚Mäuse schreiben Textilgeschichte‘ – so könnte der populistische Titel des hochwissenschaftlichen Buches lauten, das hier vorgestellt werden soll. Und das mit den Mäusen kam so: Als der Kölner Bischof Wichfried im Jahre 948 die Gebeine seines berühmten und hoch verehrten, etwa um das Jahr 400 verstorbenen Vorgängers, des heiligen Severin, umbettete, also die vermoderte, hölzerne Reliquienlade durch einen neuen Kasten aus feinem Eichenholz ersetzen ließ, wird dies nicht ohne Pomp, Ritual und Opfergaben geschehen sein. Eine dieser Opfergaben war ein Gebinde aus Roggenähren. Sicher ist, dass auf diese Weise, bevor der Holzkasten wieder verschlossen, versiegelt und in einem edlen Metallschrein verwahrt wurde, einige Zwergmäuse unbemerkt dort hinein gelangten und alsbald verhungerten. Zuvor allerdings taten sie, was Mäuse tun, sie bauten sich ein Nest und nutzten auf Ihre Art und Weise das für die Bettung der Reliquien verwendete Material. Textilien aus Leinen und Seide wurden zernagt und zerfasert, und die Fäden und kleinste Fragmente zum Nestbau verwendet. Dieser Sachverhalt und die Lage und Anordnung von Nest, Kot und den Skelettresten der Mäuse sind ein zwingender Beweis dafür, dass die angenagten Textilien bereits im Jahre 948 in die Lade gelangten und nicht erst anlässlich der fünf späteren, durch Siegel belegten Öffnungen. So gehören die großen, dekorierten Leinengewebe und eine linnene Alpe, das Untergewand einer liturgischen Tracht, zu den am sichersten datierbaren Leinengeweben des ausgehenden ersten Jahrtausends. Auch die vier in der Lade gefundenen, kostbaren asiatischen Seidengewebe zählen dank der Tätigkeit der Zwergmäuse nachweisbar zu den frühesten in den Westen gelangten großen Seiden. Mit diesen Textilien war die am 12. Juni 1999 in der Kölner Basilika St. Severin durch Weihbischof Dick vorgenommene Öffnung des kostbaren Reliquienschreins eine echte Sensation. Es ist fast unbegreiflich, dass diese großartigen Textilien erst nach über tausend Jahren entdeckt wurden, dass also trotz mehrerer Öffnungen, die letzten in den Jahren 1829 und 1960, der Inhalt der hölzernen Reliquienlade unangetastet blieb. Ein Glück auch, denn seit 1960 und mehr noch gegenüber 1829 haben sich die wissenschaftlichen und technischen Mittel der Untersuchung und Konservierung von Textilien zu ihrem heutigen hohen Standard entwickelt. Wären die Textilien bereits bei der Öffnung im Jahr 1829 entdeckt und entnommen worden, so wäre eine Zerteilung der Stoffe, um mit den Fragmenten möglichst viele Sammlungen in den Genuss der schönen Muster kommen zu lassen, recht wahrscheinlich gewesen. Es war dies im 19. Jahrhundert eine gängige Praxis, die etwa dem Textilsammler und Kanonikus Franz Bock den Spitznamen „Scherenbock“ eingetragen hat. Auch das Bewusstsein für die historische Aussagekraft von Textilien ist heute geschärft und so ist der nun vorliegende sechshundertseitige Bericht über die Befunde der Schreinsöffnung, die sich anschließenden Forschungen und deren Ergebnis nicht nur von hoher wissenschaftlicher Qualität, sondern auch von allgemeinem Interesse. Eine dendrochronologische Untersuchung der hölzernen Reliquienlade – die Eichen wurden wenige Jahre vor der Umbettung der Reliquien im Jahre 948 gefällt -, die handwerkliche Beurteilung der Eisenbeschläge und Schlösser der Truhe, eine historisch wissenschaftliche Untersuchung der vorgefundenen Siegelabdrucke, anthropologische Erkenntnisse aus der Untersuchung der Gebeine des hl. Severin, Interpretationen vorgefundener Reste von Leder, Pflanzen, Käfern und der bereits gewürdigten Zwergmäuse, Ergebnisse der Radiocarbon-Untersuchung aller organischen Materialien und eine Vita des heiligen Severin, wie sie sich aus historischen Quellen darstellt, sind ein Lehrstück für die interdisziplinäre Aufarbeitung eines solch komplexen Fundes und für den Laien wie für den Fachmann eine in ihrer Spannung einem Kriminalroman vergleichbare Lektüre. Der Schwerpunkt des Buches aber liegt entsprechend der Bedeutung des Fundes bei den Textilien, die, jedes für sich, textilwissenschaftlich exakt beschrieben und vor allem hinsichtlich Ort und Zeit ihrer Entstehung nach allen Regeln der Kunst und dem heutigen Stand der Textilforschung ausgewertet werden. Da sind die beiden europäischen Leinengewebe, in voller Größe mit Webkanten und Abschlüssen erhalten, extrem seltene frühmittelalterliche Textilien, die durch die in Broschiertechnik ausgeführten Dekore eines Rauten- und eines Vogelmusters ästhetisch besonders reizvoll sind. Die in Samit-Technik ausgeführten vier Seidengewebe, eines von ihnen mit dichten Reihen von gelben, blauäugigen Perlhühnern auf rotem Grund, ein anderes mit der Darstellung von Fasanen und Gänsen in Oktogonen, ein weiteres zur Auskleidung der Lade verwendetes mit gegenständigen Hähnen und Leopardenpaaren und schließlich eines mit kleinteiligem, bunten Rautenmuster, sind durchweg asiatischen Ursprungs und müssen zu ihrer Zeit seltene und kostbarste Raritäten gewesen sein. Unter Berücksichtigung des material- und wirtschaftshistorischen Hintergrundes, textiltechnischer Details, in Kirchenschätzen und in Museen vorhandener, meist nur fragmentarischer Vergleichsstücke und ikonographischer Parallelen mit zentralasiatischen Wandmalereien und Felsreliefs wird die sasanidische bzw. zentralasiatisch-sogdische Herkunft der Seidengewebe überzeugend dargelegt. Gebrauchsspuren machen schließlich deutlich, dass die Textilien, bevor sie im Jahre 948 der Aufbewahrung der Gebeine des hl. Severin gewidmet wurden, bereits eine Erstverwertung hinter sich hatten. Die für alle Textilien vorgenommene Radiocarbon-Datierung bestätigt denn auch das hohe, vermutlich bis ins 7. Jahrhundert zurückreichende Alter dieser außergewöhnlichen Seidengewebe. Für denjenigen Leser, der nach dieser spannenden Lektüre Lust auf die Originale hat, sei angemerkt, dass diese nicht mehr mit den Gebeinen des hl. Severin in Lade und Schrein verschlossen wurden, sondern sorgfältig konserviert und textilgerecht in einem Sakrarium in der Südkrypta von St. Severin in Köln ausgestellt sind – natürlich mit all den Spuren, die die Zwergmäuse hinterlassen haben.

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