Die Farben meiner Träume – Frühe Kelims aus Anatolien

Autor/en: Harry Koll
Verlag: Harry Koll, Sabine Steinbock
Erschienen: Aachen 2011
Seiten: 264
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 80.– (bis zum 03.07.2011: € 65.–)
ISBN: 978-3-032897-8
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2011

Besprechung:
Verfolgt man die Rezeption des anatolischen Kelims durch westliche Sammler anhand der hierzu erschienenen Literatur der letzten dreißig Jahre, so ist eine eindeutige Tendenz vom bordürengesäumten Kelim mit großen, plakativen Feldmotiven zum Kelim mit immer einfacherer Formensprache festzustellen. Dieser Weg von Kult- zum Streifenkelim, von dem für besondere Anlässe wie Geburt, Hochzeit oder Tod gewebten Einzelstück zum täglich genutzten Gebrauchstextil, vom bedeutungsschweren Muster zum minimalistischen Design wird von Harry Koll in seinem nun vorliegenden, dritten Buch zum anatolischen Kelim vor allem mit der Verfügbarkeit von Kelims im Handel erklärt. In dem Maße, wie die durch ihre kraft- und zugleich geheimnisvollen, großflächigen Musterelemente geprägten Kelims seltener wurden, haben sich Handel und, ihnen folgend, Sammler mehr und mehr den zuvor kaum als sammelwürdig erachteten, einfacheren Stücken zugewandt. Man kann das aber auch anders sehen. Werner Brüggemann hat in seinem Essay über die „Macht des Einfachen“ (Der Orientteppich – Einblicke in Geschichte und Ästhetik, Wiesbaden 2007) dargelegt, wie sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Akzeptanz moderner Kunst auch bei der Beurteilung von textilen Kunstwerken – von Teppichen ebenso wie von Kelims und dem weiten Bereich textiler Stammeskunst – eine Ästhetik des Einfachen entwickelt hat, wie das durch die abstrakte Malerei geförderte Sehen die Augen für das Erkennen der Schönheit minimaler Strukturen geöffnet hat. Beim anatolischen Kelim hat gewiss beides eine Rolle gespielt: Die Materialverknappung durch die Kelimeuphorie der neunziger Jahre und eben auch veränderte Sehgewohnheiten. Harry Kolls Buch mit einer Auswahl von 101 Kelims aus vier deutschen Sammlungen ist hierfür ein trefflicher Beleg, denn fast zwei Drittel der hier erstmals veröffentlichten Stücke gehören zu dem einfachen Typ, auch wenn die Abgrenzung – etwa bei den sehr dominant vertretenen Doppelnischenkelims – nicht immer ganz einfach ist. Und noch etwas fällt auf. Nur etwa ein Viertel der vorgestellten Kelims ist mehr oder weniger vollständig und ohne nennenswerte Schäden, während der weit überwiegende Teil aus Kelimhälften, aus sehr stark beschädigten Stücken oder gar aus Fragmenten besteht, also aus solchen Stücken, deren Erhaltungszustand die optische Rekonstruktion des ursprünglichen Kelims nicht mehr zulässt. Hier ist nochmals Brüggemann mit seiner a.a.O. publizierten Untersuchung über „Die Stunde des Fragments“ zu erwähnen. Brüggemann schreibt dort, dass sowohl für die Wertschätzung des Fragments, als auch für die Erkenntnis seiner ästhetischen Bedeutung als einzigartiges Ausdrucksmittel seiner Energien das anatolische Kelimfragment den entscheidenden Anstoß gab. Beide, Koll und Brüggemann, betonen aber auch die hohen ästhetischen Anforderungen an ein Fragment, das aus der großen Zahl unbedeutender Bruchstücke oder „Fetzen“ erst dann zum „textilen Torso“ (Brüggemann) wird, wenn durch die Reduzierung von Farbe, Form und Ausschnitt etwas Neues entsteht, wenn sich die Zerstörung gleichsam als ein „Vorgang unerhörter Verdichtung, ja der Vollendung“ (P.H.Neumann, 1984 – Zitat nach Brüggemann) darstellt. Die von Koll gezeigten Fragmente, etwa ein Viertel der publizierten Stücke, sind wundervolle Beispiele für den hohen Rang solcher textiler Torsi als autonome Kunstwerke. Ein weiteres Viertel der Kelims sind Streifenkelims, also Kelims mit streifenförmigen Musterelementen in kelimtypischer Wirktechnik, außerdem rein gewebte Stücke und solche in Mischtechnik. Vor allem die gewebten, ungemusterten Streifenkelims, lange Zeit als Gebrauchskelims wenig beachtet, als solche kaum bewahrt und daher eher selten, beziehen ihre Wirkung aus dem Rhythmus und der meisterhaften Komposition der Farben sowie aus der kunstvollen Anordnung verschieden breiter Streifen oder Felder. Zusammen mit den von Koll als „minimalistisch“ bezeichneten Kelims mit dominantem unifarbenen, nicht oder nur sparsam verzierten Innenfeld und der großen Gruppe bordürenloser Nischenkelims, eröffnet sich ein ungewöhnlicher und neuer Blick auf den anatolischen Kelim, und so ist es auch kein Wunder, dass bei einem sehr hohen Anteil der gezeigten Stücke nicht auf bereits bekannte Vergleichsexemplare verwiesen werden kann, wir also echte Unikate und damit ein seltenes und aufregendes Sehvergnügen vor uns haben. Der großen Sorgfalt, mit der Harry Koll, unterstützt durch Udo Hirsch, der geographischen Herkunft jedes einzelnen Kelims nachgeht, tut das allerdings keinen Abbruch. Es sind gerade diese einfachen Kelims und die sich in ihnen besser als bei komplizierten Mustern offenbarenden Farbzusammenstellungen und Farbharmonien, die neue Erkenntnisse über Herkunft und Zuschreibung ermöglichen, dies aber immer im Bewusstsein, dass eine Zuordnung zu bestimmten Ethnien oder Stammesgruppen aufgrund fehlender, rechtzeitiger Feldforschung kaum je möglich ist. Mehr als bei den bordürengesäumten, komplex und großgemusterten Kultkelims ist die Farbe in den einfachen Kelims der absolut dominierende ästhetische Faktor. Dabei versteht sich, dass bei den publizierten Stücken, ohne dass dies chemischer Analysen bedurft hätte, ausschließlich Naturfarben zur Anwendung gelangten, denn Erfahrung und Gefühl von Sammlern und Autor waren Gewähr, dass nur wirklich frühe Kelims für das Buch ausgewählt wurden. Womit das Thema Alter bereits erledigt ist, denn souverän enthält sich Koll jeglicher Altersbestimmung der Stücke, stuft bestenfalls den einen oder anderen Kelim aufgrund seiner hohen Farbqualität als früher ein als andere. Für den Sammler und Praktiker sind schließlich die aus eigener Erfahrung des Autors gewonnenen Erkenntnisse und Ratschläge für die Reinigung und Konservierung von Kelims – und hier sind natürlich die oft in beklagenswertem Zustand aufgefundenen Fragmente die idealen Lehrstücke – von besonderem Wert. Trotz des sich heute zum Standard entwickelten Grundsatzes, auch beschädigte oder gar fragmentarische Stücke ohne jeden Eingriff in ihre originale Substanz zu erhalten, ist bei Kelims eine vorsichtige Wäsche in der Regel unverzichtbar. Diese Praxishinweise, ein Versuch, das Geheimnis der Schönheit anatolischer Kelims aus philosophischer Sicht zu ergründen, die den neuesten Stand der Kelimforschung berücksichtigende Herkunftsbestimmung, die vornehme Zurückhaltung bei der Datierung und das ehrliche Eingeständnis, dass bei der Übertragung auf Papier trotz aller Präzision beim Druck der wirkliche Farbeindruck immer ungenau bleibt, machen das Buch zu einem Kelimbuchs, wie es ehrlicher, schöner und besser kaum sein kann. Die Schönheit und Qualität der publizierten Kelims machen es darüber hinaus zu einem Kunstbuch, das für den Sammler und Liebhaber ein „must have“ und für jeden Freund von Kunst und Design eine dringende Empfehlung ist.

Drei Dutzend der schönsten Kelims aus dem Buch werden vom 17. April bis zum 3. Juli 2011 in einer Ausstellung im Kultur- und Stadthistorischen Museum in Duisburg zu sehen sein. Am 16. April 2011 findet zu diesem Anlass ein ganztägiges Symposium zum anatolischen Kelim im Duisburger Museum statt. Einzelheiten (Programm, Anmeldungsformular, Hotelinformation) erhalten Sie bei Harry Koll und Sabine Steinbrück, Maarveld 11, B-4850 Moresnet/Belgien oder über die Email-Adresse h.koll@gmx.de, über die das Buch auch bestellt werden kann.

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