Mittelalterliche Textilien II – Zwischen Europa und China

Autor/en: Karel Otavský, Anne E. Wardwell
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2011
Seiten: 388
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: SFR 280.–
ISBN: 978-3-905014-42-6
Kommentar: Michael Buddeberg, November 2011

Besprechung:
„Zwischen Europa und China“ – lautet nicht nur der Untertitel des neu erschienenen fünften Bandes der Bestandskataloge der Abegg-Stiftung, sondern das könnte gut und gerne auch das Motto der im September 2011 nach einer Investition von 25 Millionen Schweizer Franken und über zweijähriger Bauzeit neu eröffneten Dauerausstellung der Abegg-Stiftung sein. Mit einer stützenfreien Ausstellungsfläche von mehr als 1.500 qm, locker gegliedert durch frei im Raum verteilte Wandelemente, mit modernster LED-Technik textilfreundlich und dennoch höchst effektvoll beleuchtet und zugleich immer wieder den Blick in das schöne Berner Oberland gewährend, ist Riggisberg mehr denn je das Mekka von Textilfreunden aus aller Welt. Antike Textilien vom vierten vorchristlichen bis zum 18. Jahrhundert, aus Europa, dem Vorderen Orient, und vor allem aus den Regionen der Seidenstrasse bis hinein nach China, stilvoll ergänzt durch Werke der angewandten Kunst, Malerei und Plastik aus der grandiosen Kunstsammlung der Stifter Werner und Margarete Abegg lassen den Besucher die gegenseitige Befruchtung und Beeinflussung nicht nur unterschiedlicher Kunstgattungen, sondern auch weit voneinander entfernter Kulturkreise erleben. Die offene Ausstellungsstruktur ermöglicht eine zwanglose, nur vom Geschmack und Interesse des Betrachters abhängige Zeitreise durch zwei Jahrtausende eurasischer Textilkunst. Der zeitgleich mit der Wiedereröffnung publizierte Bestandskatalog der mittelalterlichen Textilien „zwischen Europa und China“ ergänzt den schon 1995 erschienenen Band I mit Textilien aus Ägypten, Persien, Mesopotamien, Spanien und Nordafrika. Mit diesem Katalog liegt nun eine einzigartige Textilgeschichte für die Zeit vom Verfall der Spätantike bis zu ihrer Wiedergeburt in der Renaissance vor. Die Herkunft all dieser meist fragmentarischen Textilien aus Kirchenschätzen, Reliquienschreinen, Grablegungen und vor allem archäologischen Funden macht klar, dass es sich hier weniger um Gebrauchs- denn um Luxustextilien handelt, die jeweils das Optimum der Webkunst ihrer Zeit repräsentieren. Und weiter fällt auf, wie sehr dieser Luxusartikel des Mittelalters, weit überwiegend Seidengewebe, von den Produktionsstätten im Osten, von Byzanz über Vorder-, Mittel und Zentralasien bis nach China dominiert wurden. Die Präsenz dieser von weltlichen und kirchlichen Fürsten gleichermaßen begehrten Luxusartikel in Europa war das Produkt eines blühenden Fernhandels auf dem Wegegeflecht der Seidenstrasse. Es war wohl erst der Untergang der Kreuzfahrerstaaten, die dadurch entstehenden Erschwernisse des Handels über die Seidenstrasse und die gleichwohl ungebrochene Nachfrage, die in den oberitalienischen Handelszentren Venedig und Lucca eine eigene Luxusweberei entstehen ließen. Diese in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datierende erste europäische Produktion gemusterter seidener Prunkstoffe war die epochale textilhistorische Neuheit des Hochmittelalters. Sie ist das Schlusskapitel dieses Buches und für die ca. dreißig aus dieser Gruppe vorgestellten Textilien mag die großartige, vollständige und vorzügliche erhaltene Dalmatik aus einem Stralsunder Paramentenschatz unter Verwendung eines italienischen Lampasgewebes mit großen gegenständigen Pelikanen und Hunden als Beispiel genannt werden. Diese Dalmatik aber steht wegen der Mitverwendung von Seidenstoffen sowohl aus Spanien wie aus China oder Persien auch für die große Gruppe asiatischer Textilien. Hier beginnt die Präsentation im Bucgh mit dem berühmten chinesischen Seidengewebe des 7. oder 8. Jahrhunderts, das eine Herde von 183 aufgestickten bunten Enten und einen einzigen weiteren, nicht identifizierbaren Vogel zeigt. In die gleiche frühe Gruppe gehören Stoffe mit Paaren von Löwen, Vögeln oder Hirschen, meist im Medaillon, die das sasanidische Vorbild erkennen lassen und ein Beleg dafür sind, dass die sasanidische Kunst in dem weiten Raum zwischen Vorderasien und China noch jahrhundertelang nachwirkte. Eine von Anne Wardwell – alle anderen Texte stammen aus der Feder von Karel Otavský – behandelte Sondergruppe sind vierzehn seidene Gewandfragmente aus der Zeit der von 907 bis 1125 über Teile Chinas herrschenden Liao-Dynastie. Sie besitzen ein hohes textiltechnisches Niveau und zeigen, wie rasch und vollkommen diese nomadischen Bezwinger Chinas sich chinesischen Luxus zu eigen gemacht haben. Noch besser zeigen das die ebenfalls der Abegg-Stiftung gehörenden kompletten Lioa-Gewänder, die bereits 2007 publiziert wurden („Dragons of Silk, Flowers of Gold“). Es versteht sich, dass jedes einzelne Textil nicht nur perfekt abgebildet, sondern nach Herkunft, Alter, Dekor, Zustand, Technik und Material genauestens beschrieben, dass Vergleichsstücke aus anderen Sammlungen genannt werden und dass der meist ausführliche Kommentar auch kleine Fragmente in den textilhistorischen Zusammenhang stellt. Was indessen fast durchweg fehlt sind Informationen oder auch nur Hinweise auf die Fundorte der Textilien und damit über die für die Forschung so wichtigen archäologischen Fundzusammenhänge. Insbesondere für die seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von der Abegg-Stiftung schwerpunktmäßig gesammelten asiatischen Stoffe fehlen Angaben fast durchweg. Otavský merkt hier lediglich an, dass die Textilien aus jüngeren Grabungen in Tibet und China stammen, die in den 1990er Jahren der entspannten internationalen Lage wegen zum ersten Mal auf den westlichen Kunstmarkt gelangten, dass man sich aber aus Gründen der Diskretion auf die Angabe des Erwerbsortes beschränkt, was sich dann etwa so liest. „Erworben 19.. aus dem deutsch/englischen/… Kunsthandel“. Allein in den Kommentaren finden sich gelegentlich nähere Hinweise, so etwa bei den 1995 aus dem englischen Kunsthandel erworbenen Löwenstoffen, die „offenbar“ aus einem tibetischen Grabzusammenhang einer wichtigen Person, eines Kaisers, Prinzen oder hohen Adeligen stammen. Ein Trost mag hier sein, dass auch bei dem Gros der von Werner Abegg vor allem in den Jahren von 1930 bis 1935 erworbenen Textilfragmenten aus dem Ausgrabungsboom im ägyptischen Wüstensand im 19. Jahrhundert die Fundzusammenhänge unbekannt sind. Der hier erwähnte Mangel ist zweifellos der Problematik des internationalen Transfer solcher archäologischen Funde geschuldet, ist aber auch der wirklich einzige Kritikpunkt an dem ansonsten für die internationale Textilgeschichte unentbehrlichen Buch. Allerdings sind Erwerbungen der Abegg-Stiftung nach 2003 nicht mehr berücksichtigt und bleiben einem späteren Band vorbehalten. Dies wiederum ist ein Argument für eine Reise nach Riggisberg, denn die dort zu sehenden asiatischen Neuerwerbungen der letzten Jahre sind einfach hinreißend – und den hier besprochenen Band kann der Besucher dann portosparend gleich an Ort und Stelle erwerben.

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