Oya – Von osmanischer Mode zu türkischer Volkskunst

Autor/en: Gérard J. Maizou, Kathrin Müller
Verlag: Gesellschaft der Freunde Islamischer Kunst und Kultur
Erschienen: München 2011
Seiten: 48
Ausgabe: Broschur
Preis: € 5.–
ISBN: 978-3-00-034471-8
Kommentar: Michael Buddeberg, Mai 2011

Besprechung:
Textilien als Erbe der nomadischen, turkstämmigen Herkunft haben im osmanischen Reich stets eine bedeutende Rolle gespielt und zwar sowohl in der Prachtentfaltung des Hofes und der höfischen Beamten mit ihrer Familien wie auch unter der städtischen und ländlichen Bevölkerung. Kostbare Gewebe, geknüpfte Teppiche, aufwendige Wirkereien und die Kunst der Verzierung von Gewändern, Wandbehängen und Tüchern bis hin zu Gebrauchstextilien wie Handtüchern und Servietten durch aufwändige Stickerei in vielfältiger Nadeltechnik und mit einem schier unerschöpflichem Repertoire an Motiven geben davon Zeugnis. Der osmanische Hof und seine textilen Werkstätten, die während der machtvollen Periode des osmanischen Reichs ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor waren, hatten stilbildende Kraft. Techniken, Muster und Motive wurden von höfischen Vorbildern übernommen, sie wurden gängiges Repertoire von Aussteuertextilien und schließlich etablierte Volkskunst. Oya, eine besondere Form dekorativer Verzierung der Ränder von Tüchern durch phantasievoll gestaltete Nadelspitze, sind für diesen Prozess von modischer Innovation zu Volkskunst ein treffliches Beispiel. Das durch zunehmenden europäischen Einfluss abnehmende Traditionsbewusstsein der osmanischen Oberschicht, eine zunehmende Neigung zu reichem Dekor und die Geschicklichkeit türkischer Stickerinnen, führte im 19. Jahrhundert dazu, dass das traditionelle Entari, die bodenlange Robe, nicht mehr nur durch Stickerei, sondern zusätzlich durch eben diese Oya, den Rändern der Roben rundum anhaftende Spitze verziert wurde. Prachtvolle Beispiele solcher Oya-verzierten Roben des 19. Jahrhunderts befinden sich in der großartigen Kostümsammlung von Sadberk Hanim in dem gleichnamigen Museum in Istanbul (vgl. die Besprechung des von Lale Görünür geschriebenen Kataloges „Women´s Costumes of the late Ottoman Era“ im Herbst 2010). Ein in diese Sammlung gelangtes, besonders schönes, oya-verziertes Entari aus dem Besitz des türkischen Malers Osman Hamdi Bey, findet sich schließlich sogar mehrfach auf seinen Gemälden. Wie häufig in der osmanischen Textilgeschichte wurde diese neuartige Dekorationstechnik der Modeateliers der gehobenen Gesellschaft rasch von den handarbeitenden Frauen und Mädchen in Stadt und Land übernommen und so zur Volkskunst, wobei sich allerdings Gebrauch, Stil und Bedeutung der Oays wandelten. Aus der Verzierung von Roben für glanzvolle gesellschaftliche Auftritte wurde eine fantasievolle Einfassung von kleinen Tischdecken, textilen Behältnissen, Handtüchern und vor allem Kopftüchern. Auch entdeckten die kreativen Handarbeiterinnen rasch die gestalterischen Möglichkeiten dieser Dekortechnik und aus den zunächst in feinster Seide gearbeiteten und fast ausschließlich floral-dekorativen Mustern wurde ein bunter Strauss von Motiven, von Blumen, Blüten und Blättern aller Art zu Früchten, Tieren, Handwerks- und Haushaltsgeräten, Architekturdetails und vielem anderen mehr. So versteht sich auch, dass aus diesen unerschöpflichen Möglichkeiten, Oyas zu gestalten, eine Art nonverbaler Kommunikation durch Oya entstanden ist, die bis heute in traditionellen türkischen Gesellschaften gepflegt und verstanden wird. So kann eine türkische Frau durch das Motiv der ihr Kopftuch verzierenden Oya ihren Familienstand, ihre Gemütsverfassung und sogar die Zufriedenheit mit dem Ehemann oder den Ärger mit der Schwiegermutter zum Ausdruck bringen. Angesichts dieser Vielfalt und Bedeutung ist nur verständlich, dass Oya von Textilfreunden als Sammelgebiet entdeckt wurde. Eine Privatsammlung von Oyas aus spätosmanischer Zeit bis heute ist seit kurzem bis April 2012 in einer Kabinettausstellung der Ravi Gallery des Münchner Völkerkundemuseums zu sehen. In dem kleinen Katalog wird von den Sammlern neben Technik und Material vor allem die Vielfalt der Motive und deren Bedeutung, eben diese nonverbale Kommunikation mit Oyas erläutert und mit schönen Abbildungen illustriert.

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