Undiscovered Minimalism – Gilims from Northern Iran

Autor/en: Parviz Tanavoli
Verlag: Werner Weber
Erschienen: Zürich 2011
Seiten: 256
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: € 120,00
ISBN: 978-1-898113-76-8
Kommentar: Michael Buddeberg, August 2011

Besprechung:
Die Ähnlichkeit ist Absicht. So wie das 1977 von David Black und Clive Loveless publizierte Buch „The Undiscovered Kilim“ ein Tor in eine zuvor kaum bekannte textile Welt aufstieß, will auch „Undiscovered Minimalism“ die Augen für ein Sehvergnügen der besonderen Art öffnen – und schafft es mühelos. Wer sich die 73 Flachgewebe aus der persischen Provinz Mazandaran betrachtet kommt aus dem Staunen nicht heraus. Diese multiplizierte „Macht der Einfachen“ (W. Brüggemann, Der Orientteppich, Wiesbaden 2007) ist komprimierte Kunst und verursacht fast so etwas wie einen ästhetischen Schock. Die Neugier folgt auf dem Fuße. Woher kommen diese außergewöhnlichen Textilien, wer hat sie gemacht und warum und wann und zu welchem Zweck? Ein Teil der Geschichte ist schnell erzählt. Der Züricher Teppichhändler Werner Weber und einige seiner Freunde suchten vor einigen Jahren Entspannung und gingen nach Mazandaran, jener für Persien so ganz untypischen subtropischen Landschaft zwischen den Sandstränden des Kaspischen Meeres und den schneebedeckten Gipfeln des Elbrusgebirges. Unter Fachleuten war bekannt, dass Mazandaran als Herkunftsort für sammelnswerte Textilien nicht in Frage kommt. Umso größer war die Überraschung als Weber in Hezar-jerib, einer entlegenen, armen und fast vergessenen Bergregion ganz im Osten von Mazandaran in dörflichen Truhen und Schränken das textile Erbe einfacher, Ackerbau und Viehzucht treibender Bauern entdeckte. Die meist sehr großen, aus zwei bis sechs Bahnen zusammengesetzten Kelims sind wohl in der Zeit vom ausgehenden 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, sie sind durchweg so gut wie unbenutzt und ihre Funktion, ihr Zweck, ja sogar ihre webtechnische Machart sind den Menschen in Hezar-jerib heute nicht mehr bekannt. Es bleiben also mehr Fragen offen, als Antworten gegeben werden können. Dass dennoch Werner Weber und der persische Maler, Bildhauer und Textilexperte Parviz Tanavoli sich entschlossen haben, diese Kelims zu publizieren ist ein Gewinn ebenso wie die gestalterische und herstellungstechnische Begleitung durch das bucherfahrene Team von Hali unter der Leitung von Daniel Shaffer und Sebastian Ghandchi. Entstanden ist ein Buch, dessen Maxiformat (37×29 cm) in Verbindung mit perfekt-schlichter Typographie, edler Ausstattung und exzellenter Abbildungsqualität dem künstlerischen Anspruch dieser einzigartigen minimalistischen Textilkunst gerecht wird. Minimalismus in orientalischen Textilien ist nun kein ganz neues Thema. Werner Brüggemann hat in seinem bereits zitierten Essay von der „Macht des Einfachen“ dargelegt, wie sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Akzeptanz der modernen Kunst auch bei der Beurteilung von textilen Kunstwerken – von Teppichen ebenso wie von Kelims und dem weiten Bereich textiler Stammeskunst – eine Ästhetik des Einfachen entwickelt, wie das durch die abstrakte Malerei geförderte Sehen die Augen für das Erkennen der Schönheit minimaler Strukturen geöffnet hat. Harry Koll hat dann diese Tendenz für den anatolischen Kelim in seinem im Frühjahr erschienen Buch „Die Farben meiner Träume“ (Aachen 2011) vor allem mit Streifenkelims aus Zentralanatolien dokumentiert. Und wieder sind es nun Streifen, die den Charakter der Kelims aus Hezar-jerib bestimmen, Streifen in einer kaum fassbaren Vielfalt und Kombination. Zunächst sind da die Kelims, deren ästhetische Wirkung – ähnlich den traditionellen Schürzen tibetischer Frauen – dadurch entsteht, dass die mit horizontalen Streifen versehenen Webbahnen versetzt aneinander genäht sind. Je nach der Anzahl der Farben, der Breite und Sequenz der Streifen reicht der Eindruck der Kelims von verspielter Buntheit über bewusst gestaltete Kompositionen bis hin zu fast einfarbigen, nur durch Abrasch lebendigen Farbflächen, die durch einzelne schmale Farbstreifen monumentale Kraft erhalten. Starke Farbkontraste wechseln mit Bereichen, in denen sich die Farben nur in Nuancen unterscheiden. Es gibt Kelims, deren Design sich durch Farbe und Form auf ein Zentrum ausrichtet und andere, die als willkürlicher Ausschnitt kosmischer Unendlichkeit erscheinen. Eine Besonderheit sind Kelims mit zwei ganz unterschiedlichen Seiten. Hier wurden entweder Webbahnen einfach umgeklappt und vernäht oder, hochkompliziert, mit doppelter Kette gearbeitet, so dass ein und derselbe Kelim zwei in Form und Farbe vollkommen unterschiedliche Gesichter hat. Diese schon durch ihre kettsichtige Struktur ausgefallenen Kelims sind von höchster webtechnischer Perfektion und finden ihren Höhepunkt in den Stücken, mit denen Meisterweber offenbar die teuren und kostbaren Ikats imitieren wollten und mit den in einer gegenüber den Ikatgeweben vollkommen abweichenden Technik geschaffenen Farbübergängen überraschende und vollkommene Meisterwerke textiler Kunst schufen. Der fließende Übergang von Farbe zu Farbe oder von hell zu dunkel und wieder zurück, das schimmernde Spiel von Schattierungen und Formen, stets in vollendete Proportionen gebracht, sind spannungsgeladene abstrakte Kunst im besten Sinne. Zwei Texte sind es, die neben Werner Webers Vorwort über die Umstände seiner Entdeckung dieses Feuerwerk von Form und Farbe begleiten: Parviz Tanavoli, bekannt für seine Bücher über persische Flachgewebe im allgemeinen aber auch über die ebenfalls einem textilen Minimalismus nahestehenden Tacheh und Soffreh, gibt uns einen mit Fotos versehenen Überblick über Mazandaran, seine Geographie, Geschichte und seine Bewohner. Material, Struktur und Technik der Kelims und die verschiedenen, ihnen zugrunde liegenden Gestaltungsprinzipien werden beschrieben und schließlich auch, dass man über das Alter, den Verwendungszweck und eine etwaige und durchaus nahe liegende kultische oder religiöse Bedeutung dieser Webkunst heute nichts mehr erfahren kann. In einem weiteren Essay stellt sich der Teppiche und Kelims liebende Kunsttheoretiker Heinz Meyer Fragen nach der Entstehung dieser ohne weiteres mit Meisterwerken moderner abstrakter Kunst, etwa von Rothko, Newman oder Rheinhardt vergleichbaren Textilien. Beruhen sie auf spontanem Schaffen oder sind sie das Ergebnis eines hoch entwickelten Formempfindens, ist das so wirkungsvolle versetzte Aneinanderfügen regelmäßig oder unregelmäßig gefärbter Streifen ein zufälliger Effekt oder liegt hier ein bewusstes ästhetisches Konzept zugrunde? Und wie ist das überhaupt mit dem Minimalismus in der modernen abstrakten Kunst und bei orientalischen Textilien? Wer hat hier wen beeinflusst und wann und wie? Als sicher kann die Kenntnis der modernen minimal art bei den Weberinnen von Mazandaran ausgeschlossen werden doch ebenso sicher war es nicht nur die afrikanische Plastik sondern standen auch orientalische Textilien an der Wiege der modernen Kunst. Auch wenn präzise Antworten auf all die Fragen nicht möglich sind, so sind Heinz Meyers Überlegungen zu den möglichen identischen und interkulturellen Wurzeln geometrisch abstrakter Volkskunst und moderner minimal art außerordentlich lesenswert. Und dass bei den Kelims aus Hezar-jerib fast alle Fragen offen bleiben, dass es kein Wissen, keine Informationen und keine Quellen über Bedeutung, Zweck und Funktion dieser Kelims gibt, hilft letzten Endes dabei, sie ganz wie Bilder als freie Kunst zu sehen und zu bewundern.

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