Kultur- und Industriegeschichte der Textilien

Autor/en: Stefan Mecheels (Hrsg), Herbert Vogler, Josef Kurz
Verlag: Hohenstein Institute
Erschienen: Bönnigheim 2010
Seiten: 736
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: € 72.–
ISBN: 978-3-9812485-3-1
Kommentar: Michael Buddeberg, Juni 2010

Besprechung:
Der 1991 im Gletschereis der Ötztaler Alpen gefundene einsame Wanderer aus der Zeit um 3300 v.Chr. war ein für die Kulturgeschichte der Textilien und der Bekleidung ungemein wichtiger Fund. „Ötzi“, wie er alsbald liebevoll genannt wurde, war mit Fell und Leder bekleidet und trug einen Umhang, der aus einem Geflecht aus Grasfäden hergestellt war. Für die Wissenschaft etwas überraschend war es, dass die Gesellschaft, der der Ötzi angehörte, das Spinnen und Weben offenbar noch nicht kannte. Wohl aber wusste man Schnüre herzustellen, wie Ötzis Grasumhang und ein von ihm mitgeführtes grobmaschiges Netz erkennen lassen. Es ist eine Bestätigung der These, dass Schnüre aus pflanzlichem Fasermaterial als Vorläufer der Textilien anzusehen sind, und zwar, wie archäologische Funde belegen, in fast allen Kulturen und Regionen dieser Welt. In dieses Bild passt der Schnurrock, den germanische Frauen und Mädchen in der Bronzezeit getragen haben, ein durch von einem Gürtelband herabhängende Schnüre gebildetes, luftiges Kleidungsstück, das an die Baströckchen der Südsee denken lässt. Als 1921 erstmals ein solcher Schnurrock bei einer archäologischen Grabung in Dänemark zum Vorschein kam, sorgte er für erhebliche Irritationen, da ein solches, mehr erotischen Reizen als dem Zweck des Wärmens und Bedeckens dienendes Kleidungsstück so gar nicht in die Vorstellungswelt von der sittsamen nordischen Germanenfrau passte. Mit weit größerer Toleranz begegnet man den Frauen der minoischen Kultur auf Kreta, deren eng geschnittene Miederleibchen die Brust frei liessen, und die jungen Römerinnen, die beim Ballspiel einen Bikini trugen, wie auf Mosaiken in Sizilien zu sehen ist, werden gar als frühe Pionierinnen neuzeitlicher Badebekleidung gefeiert. Diese und eine kaum überschaubare Vielfalt an Informationen über die Frühgeschichte der Textilien und der Bekleidung bilden den ersten Teil einer von dem bedeutenden deutschen Textilforschungszentrum Hohenstein Institute herausgegebenen Kultur- und Industriegeschichte der Textilien. Archäologen und Prähistoriker haben in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Erkenntnisse über die Entdeckung textiler Techniken und die Entwicklung der Bekleidung gewonnen, die hier spannend, lehrreich und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit vorgetragen werden. Die Theorien von James Mellaart, des Ausgräbers von Catal Hüyük, werden ebenso diskutiert wie der erstaunliche Entwicklungsvorsprung altchinesischer Textilfertigung zur Zeit der Streitenden Reiche und der Han-Dynastie und natürlich die immer wieder gestellten Grundsatzfragen, wann und wo erstmals die textile Nutzung von Flachs, Wolle, Baumwolle oder Seide erfolgte, wie frühe Gesellschaften völlig unabhängig voneinander die durchaus komplizierten Färbetechniken mit Krapp, Indigo, Purpur und Kermes entdeckten oder wie die Entwicklung von Spindel und Webstuhl verlief. Mit Spindel und Webstuhl ist dann der noch weitaus umfangreichere Teil der Buches angesprochen, die Industriegeschichte der Textilien, die ja nicht erst mit der Erfindung der Maschinen begann, sondern die sich mit dem Einsatz immer mehr verfeinerter Werkzeuge schon seit dem Mittelalter abzeichnete. Die ersten Spinnmaschinen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Mechanisierung des Webstuhls und der Antrieb dieser Maschinen durch Wasserkraft und Dampfmaschine lösten dann aber die wohl größte Umwälzung in der Sozialgeschichte der Menschheit aus. Den dunklen Seiten aus dem Beginn des Industriezeitalters mit Ausbeutung und Kinderarbeit, mit Aufständen und deren Niederschlagung stehen mit der zunehmenden Selbständigkeit von Frauen, der Einführung von Krankenversicherungssystemen, Werkswohnungen, Kantinenwesen und weiteren sozialen Errungenschaften auch segensreiche Entwicklungen gegenüber. So haben etwa die Schneider die Erfindung der Nähmaschine zunächst als Bedrohung aufgefasst, lernten aber bald, sie zum Nutzen ihres Berufsstandes als Werkzeug zu nutzen. Nebenher erfährt man, dass Adam Opel oder Peugeot vor der Erfindung des Automobils Nähmaschinen hergestellt haben. Das alles ist spannend und locker geschrieben, versehen mit Lebensdaten und Lebensläufen der wichtigsten Erfinder und Fabrikanten und garniert mit Anekdoten und Ausblicken in die Verarbeitung dieser Zeit durch Literatur und Kunst, beispielsweise durch Gerhart Hauptmanns Bühnenwerk über den Schlesischen Weberaufstand von 1844 oder Käthe Kollwitz´ zeitkritische Radierzyklen. Ein weiteres umfangreiches Kapitel ist der Entwicklung der alles andere als farbechten synthetischen Farbstoffe Mauvein und Fuchsin um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ihrem raschen Siegeszug rund um die Welt, bis zu den heutigen hochechten Indanthren- und Reaktivfarbstoffen gewidmet. Auch hier war es, ähnlich wie bei der Bekleidung, eine für das Schmuckbedürfnis des Menschen wichtige Technik, das Einfärben von Stoffen, die am Anfang einer bedeutenden industriellen Entwicklung stand. Nichts anderes gilt für die künstliche Herstellung von Fasern. Natürliches Vorbild war hier der erstaunliche Faden, mit dem die Seidenraupe ihren Kokon spinnt und der schon im 17. Jahrhundert dem Briten Robert Hooke die Anregung zur Vision der künstlichen Herstellung textiler Rohstoffe gab. Ein französischer Graf, Hilaire de Chardonnet, gilt hier als der Pionier, der erstmals auf der Pariser Weltausstellung von 1889 die von ihm entwickelte künstliche Seide vorgestellt und den Grundstein für den Beginn der Chemiefaserproduktion gelegt hat. Nylon, Perlon, Polyester und die heute aktuellen Microfasern sind weitere Meilensteine aus diesem Zweig der textilen Industriegeschichte. Mit der Industrialisierung von Spinnen und Weben und der synthetischen Herstellung von Farben und Fasern können hier nur die wichtigsten Schritte dieser Industriegeschichte angesprochen werden. Dass parallel auch das Bedrucken von Textilien, das Herstellen von Teppichen durch Tufting, die Erfindung von Nadelfilz und Kunstleder und textile Veredelungsverfahren vom Bleichen und Walken bis zum Mercerisieren und Carbonisieren oder die Behandlung von Textilien gegen Motten und Knitterfalten zum Thema gehört, ebenso wie das Waschen und Reinigen, das von der konventionellen häuslichen Wäschepflege bis zu High-Tech-Verfahren der gewerblichen Textilreinigung reicht, erfährt man in weiteren der insgesamt 20 kurzweiligen und lesenswerten Kapitel dieser hochinteressanten Publikation. Durch ein umfangreiches Namens- und Sachregister wird das Buch zudem zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk und Handbuch für jeden an der Geschichte der Textilien Interessierten.

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