Maß und Freiheit – Textilkunst im Jugendstil von Behrens bis Olbrich

Autor/en: Barbara Hardtwig
Verlag: Kindler Verlag
Erschienen: München 2010
Seiten: 224
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 34,90
ISBN: 978-3-7774-2571-9
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2010

Besprechung:
„Das Tischtuch hat Teil an einem zentralen Aspekt der Kulturrevolution des 20. Jahrhunderts“ ist eine kühne These von Barbara Hardtwig in ihrem einleitenden Essay zum Katalog einer Ausstellung der Textilkunst im Jugendstil in der Münchner Stuck-Villa. Das bedarf natürlich einer Erklärung: Ausstellung (März bis Mai 2010) und Katalog sind einem Teilaspekt textiler Produktion gewidmet, der hier wohl zum ersten Mal Gegenstand einer musealen Präsentation und einer wissenschaftlichen Untersuchung wurde, dem Tischzeug, also Tischtuch und Serviette, Gebrauchstextilien der profansten Art. Doch diese waren beileibe nicht immer so profan. Tafel- und Mundtücher, bevorzugt aus Leinendamast, gehörten Jahrhunderte lang zu der wohl gehüteten, zeremoniellen Prunkausstattung bei Hof und in adeligen Häusern, wovon überlieferte Inventare reichlich Zeugnis geben. Das änderte sich mit dem Übergang vom Handwebstuhl zur Jacquardmaschine im frühen 19. Jahrhundert. Mit dieser technischen Entwicklung und dem parallelen, materiellen Aufstieg des Bürgertums reduzierten sich Kostbarkeit und Exklusivität solcher Textilien. Tischtuch und Serviette wurden zur erschwinglichen Massenware. Doch mit Kostbarkeit und Exklusivität schwand auch die Sorgfalt der Gestaltung. Anonyme Entwerfer, kaum besser bezahlt als die Textilarbeiter, fertigten Allerweltsentwürfe im Zeitgeschmack und übertrugen sie auf Lochkarten, mit denen die Maschinen gefüttert wurden. Diese mit der technischen Entwicklung und Massenfertigung einhergehende Entwertung des Handwerklichen und Individuellen, der Verlust von Schönheit und Ästhetik, war dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Auslöser der arts-and-crafts-Bewegung in England, die schließlich zu einer Revolution des Design in ganz Europa und in den USA führte. Während die britischen Urheber dieser Bewegung wie William Morris oder John Ruskin das mittelalterliche Ideal künstlerisch anspruchsvollen Handwerks im Auge hatten, setzte die Bewegung in Deutschland auf einen neuen, modernen Stil bei der industriellen Produktion. Bei dieser Zusammenführung von Kunst und Industrie war die Textilindustrie Vorreiter und gewann eine wichtige Rolle in der Gesamtheit der Künste und in der optisch-kulturellen Ausstattung der modernen Gesellschaft. Die Entwerfer der neuen, nachhistoristischen Textilkunst waren in der Regel sehr vielseitig, sie schufen auch Möbel und ganze Innenausstattungen, waren als Graphiker und Maler bedeutend und gaben als Architekten Impulse für den Übergang zur Moderne. Und so begegnen uns als Entwerfer von Tischtuch und Serviette in dem Katalog etwa zwei Dutzend bedeutender Jugendstilkünstler, unter ihnen Peter Behrens, Otto Eckmann, Adelbert Niemeyer, Josef Maria Olbrich, Hans Christiansen, Otto Prutscher und Richard Riemerschmid. Zu ihrem Oeuvre gehörten, das ist allgemein bekannt, natürlich auch Vorhänge oder Möbelbezugsstoffe, also sich gleichsam unendlich wiederholende Rapportmuster. Doch der durch Tischtuch und Serviette gegebene Zwang zum Umgang mit Rechteck und Quadrat, die Aufteilung des Musters in Innenfeld, Ecklösung und Bordüre, im Katalogtitel mit „Maß und Freiheit“ angedeutet, ist das eigentlich Spannende dieser Publikation. Diese, textiltechnisch gesprochen „abgepasste Ware“, wird mit den ca. 120 gezeigten Stücken zu einem Lehrstück des meisterlichen Umgang mit der Fläche und es ist ein ästhetisches Vergnügen, die unterschiedlichen Lösungen des Problems, sei es durch streng geometrische oder florale, in einigen Exemplaren auch figürliche und gegenständliche Muster zu verfolgen und darin individuelle Handschriften der einzelnen Künstler zu erkennen. Die jeweils bei den Stücken vermerkten Leihgeber, zahlreiche Museen, Firmenarchive und private Sammlungen machen schließlich die großartige Leistung bewusst, eine solche Sammlung von Gebrauchtextilien zusammenzutragen, deren Bestimmung es war, genutzt, verbraucht und entsorgt zu werden. Und ebenso zu würdigen ist die Leistung der Autorin, diese bis heute kaum beachtete Spielart angewandter Kunst entdeckt und in dem einleitenden Essay in das Spannungsfeld zwischen Kunst und Industrie an der Wende zum 20. Jahrhundert gestellt zu haben. Die These vom Tischtuch als einem zentralen Aspekt der Kulturrevolution des 20.Jahrhunderts erweit sich somit als nur leicht übertrieben.

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