Der Heilige Schatz im Dom zu Halberstadt

Autor/en: Harald Meller, Ingo Mundt, Boje E. Hans Schmuhl
Verlag: Schnell & Steiner
Erschienen: Regensburg 2008
Seiten: 436
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: € 69.– (bis zum 31.01.2009: € 59.–)
ISBN: 978-3-79542-117-5
Kommentar: Michael Buddeberg, September 2008

Besprechung:
Das erklärte politische Ziel der Kreuzzüge, die Eroberung des Heiligen Landes für die abendländische Christenheit, wurde nicht erreicht. Zwar triumphierte schon der erste Kreuzzug am 15. Juli 1099 mit der Einnahme Jerusalems, doch politische Sonderinteressen fürstlicher Kreuzfahrer, Rivalitäten und Thronwirren in der Kreuzfahrerstaaten ließen schon den zweiten Kreuzzug (1147-1149) zur militärischen Katastrophe werden, und mit der Rückeroberung Jerusalems durch Sultan Saladin im Jahre 1187 waren die Würfel gefallen. Sechs weitere Kreuzzüge bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, darunter der Wahnsinn eines Kinderkreuzzuges, geben zwar Zeugnis von einer tiefen, religiös-geistigen Bewegung, den Teilnehmern brachten sie jedoch vorwiegend Niederlagen, Verlust und Tod. Für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Abendlandes indessen hatten die Kreuzzüge eine nachhaltige, kaum zu überschätzende Wirkung. Die Begegnung mit der islamischen Welt, mit arabischer Literatur, Wissenschaft und Philosophie hatte prägenden Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte und mit Staunen und Begeisterung wurde erstmals die materielle Kultur des Orients, sein Reichtum und seine Luxusgüter zur Kenntnis genommen. Handelsinteressen vor allem der italienischen Stadtstaaten, allen voran Venedig, hatten daran wesentlichen Anteil. So waren es wohl auch vorwiegend handfeste venezianische Interessen, die den von Papst Innozenz III betriebenen 4. Kreuzzug zur Eroberung von Konstantinopel missbrauchten. 1204 wurde Konstantinopel erstürmt, geplündert und in Brand gesetzt. Mit dabei war Konrad von Krosigk, Bischof von Halberstadt, und die von ihm im Jahre 1205 in seine Residenzstadt mitgebrachten Kunst- und Reliquienschätze aus dieser byzantinischen Eroberung bilden bis heute den Kern des einzigartigen Halberstädter Domschatzes. Seit April dieses Jahres wird dieser Schatz erstmals fast vollständig im neu errichteten, vorbildlich gestalteten Dommuseum präsentiert, und das soeben bei Schnell und Steiner erschienene, großartige Buch wird dazu beitragen, dass der bisher wenig bekannte Kirchenschatz die ihm gebührende Würdigung findet. Dass dieser Schatz seit dem Mittelalter allen Kriegen und Plünderungen, der Reformation, dem 30-jährigen Krieg, der Säkularisation und der Habgier von Kirchenfürsten und weltlichen Herrschern unversehrt und vollständig widerstanden hat, ist ein Wunder. Zu danken ist es wohl der Kontinuität und ungewöhnlichen ökumenischen Zusammensetzung und Denkweise des Domkapitels, dem stets Vertreter beider Konfessionen angehörten. Das wunderschöne Buch besticht durch die überragenden Aufnahmen des Fotografen Juraj Lipták, die die Kunstwerke in großem Format und in idealer Ausleuchtung vor mattschwarzem Hintergrund, oft auch im Detail, dem Betrachter noch näher bringen als es die museale Präsentation vermag. Für die Beschreibung der 120 vorgestellten Schätze sind nicht weniger als 52 Autoren verantwortlich, alles erste Kenner der jeweiligen Fachgebiete. Die Zahl der Autoren belegt zugleich die Breite und Vielfalt dieses einzigartigen Ensembles. Das sind zunächst die Reliquien, zu ihrer Zeit weit kostbarer als Gold und Edelstein. Die Tafel-, Arm- und Architekturreliquiare, ein fatimidisches Bergkristallgefäß mit kostbarer Goldmontierung, ein gefasstes Straußenei, das berühmte Karlsreliquiar und der Hedwigsbecher, Kästen und Schatullen aus Holz, Leder und Elfenbein sind allesamt Zeugnisse höchster mittelalterlicher Handwerkskunst zur Aufbewahrung der anbetungswürdigen Reliquien. Es folgen Geräte für den Gebrauch im Gottesdienst, emaillierte Leuchter, ein Löwenaquamanile, vergoldete Kupferschalen aus Limoges, Hostiendosen, Weihrauchfässer, Monstranzen, Kreuze, ein vergoldeter Wärmeapfel für die beim Beten klamm gewordenen Hände oder die Abendmahl- und die Prophetenschale, große, kunstvoll bemalte Holzschalen, die weltweit nichts ihresgleichen haben. Möbel und Ausstattungsgegenstände des von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis etwa 1500 erbauten gotischen Domes, ein bemalter Reliquienschrank aus dem 13. Jahrhundert, Taufbecken, Bronzeleuchter, Tafelbilder, Altäre und Skulpturen gehören durchweg zu den ältesten und bedeutendsten Zeugnissen ihrer Art. Auch der Handschriftenschatz, bis ins 9. Jahrhundert zurückreichend und zum Teil kostbar gebunden, ist hier zu erwähnen. Von allergrößter Bedeutung aber ist der einzigartige Bestand an mittelalterlichen Textilien, zu dessen Beschreibung fast ausschließlich Superlative gebraucht werden können. Die Paramentensammlung gehört weltweit zu den größten und bedeutendsten, der Abraham-Engel- und der Christus-Apostelteppich sind die ältesten, fast vollständig erhaltenen Wirkteppiche des Abendlandes (um 1150), das große Fragment des so genannten Philosophenteppichs ist das einzig erhaltene Beispiel eines geknüpften europäischen Bodenteppichs aus der Mitte des 12. Jahrhunderts und die beiden großformatigen Marienteppiche sind zwar „erst“ um 1500 entstanden, gehören aber ohne Zweifel zu den schönsten und dekorativsten Tapisserien aus dieser Zeit. Die Paramente allein bilden ein fast vollständiges Museum mittelalterlicher Web- und Stickkunst. Exotische Gewebe aus Vorder- und Mittelasien, dekorative Seidengewebe aus Byzanz, Brokate und Samte aus Florenz, Venedig und Lucca, Stickereien aus England, Stoffe aus Spanien und Sizilien, vollplastische figürliche Stickarbeiten aus Niedersachsen, Kölner Borten und aufwändige Perlstickereien formen ein unvergleichliches Kaleidoskop der frühen textilen Künste. Das in England auf rotem Seidensamit mit Goldfaden gestickte Motiv des einen Hirsch jagenden Kentauren oder der ebenfalls auf rote Seide aus dem Byzanz des 12. Jahrhunderts gestickte liebenswürdige Löwe, der auch den Einband ziert, sind ästhetische Höhepunkte für den Betrachter. Das aufregendste aller Textilien aber wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Reparaturarbeiten im Dom in einem schlichten Reliquienkasten aus Blei gefunden: Ein mesopotamischer Seidenstoff in feinster Schlitzwirkerei zeigt fantasievolle bunte Vögel in sechseckigen Medaillons, ein Motiv, das seinen Ursprung in den dekorativen Perlmedaillons der Sasanidenzeit hat. Es könnte wohl im Bagdad des neunten oder zehnten Jahrhunderts hergestellt worden sein. Das Buch über den heiligen Schatz im Dom zu Halberstadt hat beste Chancen bei der Wahl der „Schönsten Bücher“.

Print Friendly, PDF & Email