Liturgische Gewänder des Mittelalters aus Stralsund

Autor/en: Juliane von Fircks
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg bei Bern 2008
Seiten: 368
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: CHF 195.–, EUR 125.– (jeweils zzgl. Porto)
ISBN: 978-3-905014-37-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2008

Besprechung:
„Plötzlich wie Gottes zornflammender Blitz“ und „wie ein Wirbelsturm“, so zeitgenössische Beobachter, brach seit dem Herbst des Jahres 1237 der Mongolensturm über das östliche Europa herein. Widerstand schien zwecklos, Panik und namenloses Entsetzen erfasste die gesamte Christenheit. Während die einen glaubten, die fremden Peiniger, die Tartari, seien direkt der Unterwelt, dem Tartarus, entstiegen, waren sich andere sicher, die biblischen Gog und Magog seien vom Ende der Welt herbeigeeilt, um das Jüngste Gericht anzukündigen. Obwohl der Spuk im Frühjahr 1242 nach dem Tod des Großkhan Ögedei ein jähes Ende fand wirkte der Schock der tartarischen Bedrohung noch Jahrhunderte. Dies hinderte politisch und weltläufig denkende Menschen indessen nicht, die Mongolen als mögliche Partner für Kriegszüge und Handelskontakte wahrzunehmen. Bereits Mitte des 13. Jahrhunderts hatte Papst Innozenz IV mit dem Gesandten Plano Carpini diplomatische Kontakte zum Großkhan geknüpft, und die Idee eines mit mongolischer Unterstützung erfolgreich durchgeführten antiislamischen Kreuzzuges bewegte das Papsttum und westeuropäische Herrscher noch bis ins 14. Jahrhundert. Parallel zu diesen diplomatischen Kontakten entwickelten sich fast noch rascher rege Handelsbeziehungen. Schon Carpini begegnete 1247 in Kiew venezianischen, genuesischen und pisanischen Kaufleuten aus Konstantinopel, die die Handelswege „per Tartaros“ bereisten. Sie alle, Diplomaten und Kaufleute, zeigten sich tief beeindruckt von der Pracht der Kleidung und der textilen Ausstattung der Wohn- und Festzelte an den Höfen der Tartarenherrscher, und so waren diese Tartarenstoffe ein hoch begehrten Luxusartikel europäischer Fernhändler in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Auch der Klerus gehörte zu den Abnehmern dieser Gewebe, wie die zahlreich in den Inventaren der Päpste Bonifaz VII und Clemens V erwähnten Paramente aus „panni tartarici“ belegen. Die Liebe zur Pracht und die Faszination dieser Goldstoffe waren offenbar stärker als Vorurteile gegen die Verarbeitung heidnischer Materialien. So erstaunt es denn auch nicht, dass sich im mittelalterlichen Stralsunder Paramentenbestand insgesamt zehn dieser exotischen seidenen Lampasgewebe erhalten haben, deren Muster aus vergoldeten Lederstreifen gebildet wird. Ob nun dieser Umstand eine Rolle gespielt hat, dass die Abegg-Stiftung zusammen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen umfassenden Katalog des bislang nur wenig bekannten Stralsunder Paramentenschatzes veröffentlichte, wird nicht verraten; jedenfalls passt der hohe Anteil zentralasiatischer Gewebe aus „Riemchengold“ hervorragend in die aktuelle Ausrichtung der Abegg-Stiftung nach Zentralasien und dem Fernen Osten. So widmet die Autorin Juliane von Fircks (Kunsthistorikerin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Mainz) neben der Geschichte der Stralsunder Paramente, deren Erwähnung in alten Inventaren und der Bedeutung der Seide in der Stralsunder Gesellschaft einen zentralen Beitrag diesen Prachtstoffen aus dem mongolischen Großreich. Die Erfindung dieser Goldstoffe geht wohl auf die halbnomadischen Kitan und deren Herrscherdynastien der Liao (907-1125) und Jin (1116-1234) zurück, die, ebenso wie später die mongolischen Großkhane, bestrebt waren, dem chinesischen Kaiserhof im Glanz des Hoflebens und damit der Pracht der Stoffe und Gewänder gleichzukommen. Wenig bekannt ist indessen über die Produktionsorte, die Produktionsbedingungen und vor allem die konkreten Handelswege. Der Landweg über Smolensk, Riga und Nowgorod wird angesichts des Fund- oder Bestimmungsortes Stralsund als durchaus möglich vermutet. Wie dem auch sei, mit dieser Untersuchung hat Juliane von Fircks einen wichtigen Beitrag zu dem spannenden Thema des frühen Handels zwischen Ost und West geliefert, der gewiss Anregungen zu weiteren Forschungen gibt. Doch es sind nicht nur die mongolischen Goldstoffe, die faszinieren: An den in Stralsund geschneiderten liturgischen Gewändern und Paramenten aus dem Besitz der Kalands-Bruderschaft und aus St. Nikolai haben sich Seidengewebe unterschiedlichster Provenienz erhalten. Neben den Stoffen aus Zentralasien finden sich solche aus Persien, Spanien, Italien und Norddeutschland. Entstanden zwischen 1300 und der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind sie ein Spiegel der Entwicklung der Seidenweberei in Asien und Europa. War man in Europa bis zum Ende des 13. Jahrhunderts fast vollständig auf Importe aus Byzanz, dem Mittleren und Fernen Osten angewiesen, so begann die in Lucca und Venedig seit dem 13. Jahrhundert aufblühende Seidenindustrie den europäischen Markt im Laufe des 14. Jahrhunderts zunehmend zu erobern, bis sie ihn in der Zeit um und nach 1400 vollkommen dominierte. So kommen etwa 40 und damit die meisten der in den Stralsunder Paramenten verarbeiteten Seidenstoffe aus Italien. An ihnen wiederum ist die Entwicklung der italienischen Seidenweberei des 14. Jahrhunderts deutlich ablesbar. Während zunächst in Anlehnung an chinesische und islamische Vorbilder kämpfende Tierpaare oder Tiere exotischer Herkunft häufig sind, werden in der Zeit um 1400 östlich inspirierte Fabelwesen wie Phönix, Qilin und Fenghuan durch naturalistisch gesehene, in Europa beheimatete Vögel und Vierbeiner ersetzt. Im gleichen Zuge weichen die mit Lotusblüten und Päonien besetzten Blattranken schematisierten Palmetten, Zäunchen, Wellen und Wolken. Mit dieser Europäisierung erscheinen dann auch eindeutig christliche Motive. Deren Seltenheit deutet aber an, dass nur wenige Stoffe ausschließlich für den klerikalen Gebrauch gewebt wurden und dass viele der frühen Paramente, so auch einige im Stralsunder Bestand, aus so genannter Zweitverwertung stammen. Seidene Gewänder wurden auch im mittelalterlichen Stralsund als kostbarer Besitz angesehen und oftmals testamentarisch der Kirche vermacht. So erweisen sich die Paramentenschätze aus dem Kulturhistorischen Museum der Hansestadt Stralsund als ein überaus lohnenswertes Studienobjekt zur Kunstgeschichte der Seidenweberei, zur Geschichte des liturgischen Gewands, zu Fragen der Mechanismen des Handels und zum Wissen über die Verarbeitung und Nutzung solcher Textilien. 39 in Bildern, Detailabbildungen, Beschreibung, Schnittzeichnungen und ausführlicher technischer Analyse (aus der Feder von Birgit Krentz) vorbildhaft dargestellte Textilien, davon 14 Kaseln und Diakonsgewänder, 21 Manipeln und einige kleinere Objekte werden noch ergänzt um vier Stücke aus dem Grassi-Museum in Leipzig, dem Kunstindustrimuseet in Kopenhagen und schließlich aus der Abegg-Stiftung, die alle nachweisbar um 1930 als Doppelstücke vom Kulturhistorischen Museum verkauft worden waren. Die Dalmatik aus der Abegg-Stiftung ist das fast identische Gegenstück zur Tunicella aus Stralsund. Beide gehören zu den faszinierendsten liturgischen Gewändern des 14. Jahrhunderts und beide sind Kombinationen faszinierender Lampasgewebe aus Spanien, Persien, Zentralasien und Italien, die in prachtvoller Farbigkeit eine exotische Menagerie von Pelikanen, Panthern, Pfauen und Löwen in paradiesischer floraler Umgebung zeigen. Diese Dalmatik war die erste wirklich namhafte textile Erwerbung des jungen Industriellen Werner Abegg, die noch heute zu den Herzstücken der Sammlung der Abegg-Stiftung gehört – vielleicht ein weiterer Grund für die Abegg-Stiftung, sich an der Veröffentlichung eines der großen spätmittelalterlichen Paramentenschätze in Norddeutschland zu beteiligen. Wie von der Abegg-Stiftung gewohnt gehen die textiltechnologische und die kunstwissenschaftliche Erschließung der Objekte auf höchstem Niveau Hand in Hand und formen wieder einmal ein beispielhaft schönes Buch zur mittelalterlichen Textilkunst.

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