Der Orientteppich – Einblicke in Geschichte und Ästehetik

Autor/en: Werner Brüggemann
Verlag: Werner Brüggemann
Erschienen: Lübeck 2007
Seiten: 416
Ausgabe: Hardbound
Preis: € 98.–
ISBN: 978-3-89500-563-3 (Vertrieb durch Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden)
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2008

Besprechung:
Die soeben eröffnete Retrospektive von Mark Rothkos Werk in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München gilt als eines der zentralen Kunstereignisse des Jahres. Vor allem die großflächigen, vibrierenden Bilder mit ineinander verschwimmenden Farbrechtecken, Ikonen des Abstrakten Expressionismus mit einer mystisch-religiösen Strahlkraft, werden die Diskussionen um Abstraktion und Reduktion in der modernen Kunst und um die Stilrichtung des Minimalismus neu beleben. Doch was hat das mit dem Orientteppich zu tun? Gibt es eine Verbindung des Minimalismus mit der Welt des Orientteppichs, Verwandtschaften zwischen der Monochromie eines Bildes von Yves Klein und der des Meditationsteppichs eines tibetischen Lama, zwischen der Form- und Farbwelt eines Piet Mondrian und einem persischen Gabbeh oder eben den vibrierend-korrespondierenden Farbflächen bei Rothko und bei manchen anatolischen Kelims? Es gibt sie nicht! Es führt kein Weg von den theoretischen Grundlagen der minimal art zu den Minimalstrukturen orientalischer Web- und Knüpfarbeiten. Die Reduktion in orientalischen Teppichen und Flachgeweben hat ganz andere Ursachen und sie ist niemals programmatisch. Und doch ist gerade die jüngere Rezeptionsgeschichte des Orientteppichs eng mit der modernen Kunst verbunden. Die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Entdeckung des Einfachen im Orientteppich, die unübersehbare Zuwendung von Sammlern und Liebhabern zu dem ursprünglichen Bauern- und Nomadenteppich, und dessen Akzeptanz als Kunstwerk war für Werner Brüggemann Anlass, diese Änderung der Sehgewohnheiten, die Macht des Einfachen zu untersuchen. Seine Erkenntnis, dass sich erst vor dem Hintergrund moderner Kunst auch bei Teppichen, also bei deren Beurteilung, die Ästhetik des Einfachen entwickelt hat, ist überzeugend. Die Sehschulung durch die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts, durch Expressionismus, abstrakte Malerei und Minimalismus hat erst den Boden geschaffen, den Teppich als textile Kunst zu erkennen. Dass es andererseits die Kunst der so genannten Primitiven, der Naturvölker Afrikas und Ozeaniens war, die den Aufbruch der modernen Kunst angestoßen hat, lässt den Autor nach gemeinsamen Wurzeln suchen, die er aber außer der naturnahen Materie – hier Holz, da Wolle – nicht findet. Orientalische Teppichkunst, auch wenn sie „einfach“ ist, sei es originär oder durch einen Vorgang der Reduktion, gehört nicht zur Kunst der Primitiven, sondern ist stets geprägt von der Formenwelt weit zurückreichender Kulturen. Das nun ist ein weiteres Thema – insgesamt sind es fünf – mit dem sich der Autor in seinem lange und mit Spannung erwarteten Buch über den Orientteppich auseinandersetzt, dem Ergebnis einer mehr als ein halbes Jahrhundert währenden liebevollen Zuwendung und ernsthaften Forschung. Freilich, die Wurzeln des Orientteppichs bleiben wohl für alle Zeiten unerreichbar im Dunkel der Frühgeschichte. Unbestreitbar wichtig für die Geschichte des Orientteppichs sind jedoch dessen anatolische Traditionen. Brüggemann extrahiert aus dem reichen anatolischen Formenschatz drei große Traditionen, die alttürkische, die islamische und die osmanische. Aus der alten innerasiatischen Geschichte der nach Westen aufgebrochenen Turkvölker resultiert ein reiches Erbe ursprünglicher, starker und bedeutungsvoller Muster. Oktogon, Achsenkreuz und Swastika, Blütenkelche, Hörner und Vögel, Haken, Wolken und Spiralen stammen aus türkisch-zentralasiatischer Vergangenheit und lassen, neben anderen, eine schamanistische Herkunft ebenso erkennen wie die Begegnung mit China. Durch den Islam wird diese Tradition von einem gänzlich anderen Gestaltungsprinzip überlagert. Die Motive ordnen sich zum Ornament und organisieren sich im unendlichen Rapport, es entsteht so eine einzigartige Synthese von türkischer Basiskultur und islamischer Kunst: Der anatolische Teppich der Frühzeit ist reich überliefert durch die niederländische Malerei und dank seiner Funktion als Handelsobjekt, vor allem als Gegenstand von Spenden an die örtliche anatolische Moschee, auch in nennenswerten Stückzahlen im Original, meist als Fragment, zu bewundern. Die dritte Tradition, die dekorative osmanische Kunst, deutlich ein Spätstil, fügt vor allem eine florale Komponente hinzu, Tulpe und Nelke, von den starken alten Traditionen jedoch in einen Prozess der Abstraktion gezwungen. Die von Brüggemann gewählte Darstellung, seine Analyse der verschiedenen Traditionen mit sprachlicher Präzision, wissenschaftlicher Akribie und zeichnerischen Beispielen, die traumwandlerisch sichere Navigation durch die historische Wirklichkeit des alten Anatolien und die zwingende Erklärung von Zusammenhängen ist nicht mehr und nicht weniger als eine Schule des Sehens, die nach der Lektüre jeden Teppich mit anderen Augen betrachten lässt. Dies umso mehr als uns der Autor das eben theoretisch Gelernte am praktischen Beispiel vor Augen führt. Mit fast schon kriminalistischem Spürsinn wird ein bislang kaum beachtetes Teppichmuster in einem Gemälde Jan van Eycks analysiert, in seine Grundmotive zerlegt und sein islamischer Charakter erläutert. Doch dann nimmt uns der Autor auf eine Entdeckungsreise durch zwei Jahrtausende, findet eben dieses Muster in einer Moschee im Kairo des 9. Jahrhunderts, in einem noch früheren Mosaik in Jericho und ruht nicht eher bevor er nicht den Nachweis geführt hat, dass das Motiv eine römische Schöpfung der antiken Welt, sein Ursprung in Italien in der ersten Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts zu suchen ist. Auf dem Weg zurück erleben wir dann die strukturelle Wandlung in ein spezifisch islamisches Muster, die zunehmende Hervorhebung und Verflechtung der Linie gegenüber der Fläche und die kompromisslose Darbietung als unendlicher Rapport. Nach dieser Entdeckungsgeschichte wird man den van Eyck-Teppich oder das van Eyck-Muster neben Memling, Lotto, Holbein und Co in das Repertoire der Teppichbezeichnungen aufnehmen müssen. Ein weiterer Beitrag zur Schule des Sehens – und eines der fünf Kapitel des Buches – ist Brüggemanns Versuch, das Holbein-Muster auch im anatolischen Kelim nachzuweisen. Obwohl manche Kelim-Kenner jedweden Zusammenhang zwischen der Formenwelt des Knüpfteppichs und des Flachgewebes beharrlich leugnen, gibt es ihn natürlich. Und so ist es kein Wunder, dass Brüggemann auch den Holbein-Kelim identifiziert. Höhepunkt seiner essayistischen Fabulierkunst ist Brüggemanns Beitrag zur Bedeutung des Fragments. Etwa parallel zur Entdeckung des Einfachen hat ab den 80er Jahren die Stunde des Fragments geschlagen. Die Verdichtung des Ausdrucks im Fragmentarischen, die Potenzierung von Farben und Formen im überlieferten Rest, ist eine Erscheinung, die sich nicht auf den Orientteppich beschränkt. Brüggemann diskutiert das Phänomen des Fragmentarischen aus philosophischer Sicht und aus der Sicht moderner Kunstwissenschaft. Mit den Beispielen der Venus von Milo und des Apollo von Belvedere erklärt und belegt der Autor, dass sich aus der großen Zahl zwar historisch wichtiger, gleichwohl ästhetisch unbedeutender Fragmente der textile Torso als ein Objekt heraushebt, das die ästhetische Kraft einer künstlerischen Gestaltung potenziert zum Ausdruck bringt. Nur fragmentarisch in diesem Sinne kann eine Würdigung von Brüggemanns Buch ausfallen. Der knappe Blick auf die fünf großen Themen seiner Arbeit kann den Reichtum an Gedanken und Ideen rund um die Geschichte und Ästhetik des Orientteppichs, die vielen Anregungen aus anderen Wissensgebieten, aus Philosophie, Kunstwissenschaft, Geschichte, Literatur, um nur die wichtigsten zu nennen, und schließlich seine kritische Analyse und Würdigung anderer Meinungen nur unvollkommen wiedergeben. Faszinierend ist auch die Präzision, Schönheit und Eindringlichkeit einer Sprache, wie sie einem nur selten begegnet. Nicht immer leicht zu lesen, zieht die besondere Sprachform Brüggemanns den Leser in Bann und bereitet jenseits aller Inhalte ein stets spannendes, intellektuelles Vergnügen. Wer je Gelegenheit hatte, eine Lesung von Brüggemann zu erleben, weiß, dass sich seine Sprache ebenso gut anhört, wie sie sich liest. Mit diesem Buch hat die vierte Periode der Forschungsgeschichte des Orientteppichs begonnen. Das zu erklären sprengt nun aber den Rahmen einer Buchbesprechung. Was es damit auf sich hat, müssen Sie selbst nachlesen (S. 230 ff).

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