Kaitag – Daghestan Silk Embroidery – An Italian Collection

Autor/en: Ziya Bozoglu (Hrsg.)
Verlag: Ziya Bozoglu
Erschienen: Perugia 2007
Seiten: 184
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 85.–
ISBN: 1-898113-65-3
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2007

Besprechung:
Das Cover dieses Buches ist gut gewählt, so dass das Auge unwillkürlich daran hängen bleibt. So etwas hat man doch schon einmal gesehen, etwa im Wissenschaftsteil der Tageszeitung. Staubmilben könnten das sein, unter dem Elektronenmikroskop, hundertfach vergrößerte Blattläuse oder andere Parasiten mit Tentakeln, Beißorganen und Saugvorrichtungen. Für den textilkundigen Betrachter, dem diese einige hundert Jahre alten Stickereien aus dem Kaukasus begegnen, schließt sich diese Sichtweise allerdings aus. Er sieht hier Drachen oder gar das mythische Ki´lin, ein aus der chinesischen Symbolwelt stammendes Wesen, in China ein Sinnbild für Güte und Kindersegen. Das Ki´lin wird üblicherweise dargestellt mit dem Körper eines Hirsches, dem Schwanz eines Rindes, den Schuppen eines Fisches, gespaltenen Hufen und einem mit Fell bekleideten Horn. Flügel allerdings, wie sie die seltsamen Wesen auf dem Buchcover zu besitzen scheinen, hat das klassische Ki´lin nicht. Jedoch – ein Ki´lin, das in diese entlegene und schwer zugängliche Region im Südwesten von Daghestan vorgedrungen ist, müsste wohl Flügel gehabt haben. Gleichwohl ist die Interpretation des geflügelten Wesens als Drache sehr viel näher liegend, waren doch Drachen fast überall heimisch – man denke hier etwa an die klassischen kaukasischen Drachenteppiche und die daraus abgeleiteten mal mehr mal weniger drachenförmigen Muster in späteren Teppichen. Doch wie auch immer man diese Wesen interpretieren mag, eine Entschlüsselung der Symbolsprache von Kaitag-Stickereien, mögen es gegenständliche Motive sein, oder, wie überwiegend, rein abstrakte Formen, ist bis heute nicht wirklich gelungen. Auch das von dem italienischen Händler Bozoglu herausgegebene Buch über die bedeutende Sammlung von Kaitag-Stickerien des florentinischen Anwalts und Sammlers Giuseppe Moreschini bringt hierzu keine neuen Erkenntnisse. Es bringt aber vorzügliche Farbbilder von 82 Exemplaren, einem beachtlichen Teil der heute insgesamt und weltweit kaum mehr als vielleicht 500 bis 600 erhaltenen Stücke. Das Buch ist damit eine ideale Ergänzung zu dem 1993 erschienenen, und noch immer massgebenden Buch von Robert Chenciner über Kaitag-Stickereien. Dabei fällt auf, dass der Schwerpunkt der Sammlung Moreschini – von den Ki´lins oder Drachen einmal abgesehen – auf den gänzlich ungegenständlichen, abstrakten Motiven liegt. Auch wenn die Gestaltungsprinzipien, zentrales Medaillon, unendlicher Rapport, Bordüren oder Rautengitter häufig traditionellen Vorbildern entlehnt sind, sind doch die einzelnen Motive und Symbole ganz eigenartige amöbenhafte Formen, die sich in stets wechselnder, leuchtender Farbigkeit zu unvergleichlich dekorativen Bildern zusammenfügen. Die Schönheit dieser Kaitags hat ihnen seit ihrer Entdeckung durch Chenciner einen Platz unter den schönsten Stickereien der Welt gesichert, doch dies allein wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Das eigentliche Phänomen dieser kleinen Kunstwerke ist das Geheimnis, wie und warum in einer kleinen, entlegenen Region im südlichen Kaukasus Stickereien entstanden sind, die so vollkommen anders sind als alles, was sonst aus dem Kaukasus bekannt ist. Die Kaitag ist eine multiethnische Gruppe – über dreissig verschiedene Ethnien mit noch viel mehr verschiedenen Sprachen und Dialekten hat man gezählt -, in der christliche, jüdische, muslimische, zoroastrische und wohl noch einige andere, vor allem aber animistische und schamanistische Vorstellungen, Überzeugungen und Gebräuche zu einer Symbiose gefunden haben, aus der heraus wohl diese Symbolik entstanden ist. Es ist eine Symbolik, die mit den entscheidenden Mysterien des Menschseins zu tun hat, mit Werden und Vergehen, mit Geburt, Hochzeit und Tod. Denn nur zu diesen Gelegenheiten wurden diese Stickereien benutzt, als Decke in der Wiege des Neugeborenen, als Einschlagtuch für den Brautschmuck und als Gesichtsbedeckung des Verstorbenen im Trauerritual. In allen Fällen hatten die Textilien vor dem bösen Blick zu schützen und vor dem schädlichen Einfluss von schlechtem Zauber, Fabelwesen und Dämonen. So weit so gut, doch das Geheimnis warum diese Schutzfunktion gerade in den Tälern der Kaitag diesen zoomorph amöbenhaft apotropäischen Formen zuwuchs, ist damit noch nicht gelöst. Bob Chenciner und der Volkskundler David Hunt sind dem Geheimnis immerhin auf der Spur, wenn sie die Kaitag-Stickereien in den Kontext anderer lokaler Traditionen stellen und Bezüge zu Seidengeweben, Patchworkarbeiten, Masken, aber auch zu Tänzen, Legenden, Märchen und Liedern aufzeigen. Am überzeugendsten ist hier der Vergleich und die in der Symbolik verblüffende Übereinstimmung mit den bei den Frauen der Kaitag bis heute gebräuchlichen Tätowierungen. Auch diese dienen in erster Linie der Abwehr des bösen Blicks. Aber auch das erklärt nicht, warum die Frauen der Kaitag mit ihren farbenfrohen Stickereien eine Formensprache gefunden haben, die nicht nur schön und dekorativ ist, sondern auch zeitlos und allumfassend und warum diese Sprache gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein abruptes Ende fand. Das Buch mit dem rätselhaften Cover ist nicht nur, wie Chenciner und Hunt bescheiden meinen, ein aktuelles update, sondern ein bibliophiler Leckerbissen zumindest für Liebhaber von Textilien, für Volkskundler und für Freunde moderner Kunst. (Das Buch kann direkt bezogen werden über die Galerie Bozoglu, via Calderini, 11, IT 06123 Perugia, FAX 0039-075-573-4929, oder über den Buchservice des Magazins HALI).

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