Textilien aus dem alten Peru

Autor/en: Nikkibarla Calonder, Judith Rickenbach
Verlag: Museum Rietberg und Abegg-Stiftung
Erschienen: Zürich und Riggisberg 2007
Seiten: 488
Ausgabe: Hardbound
Preis: € 60.–
ISBN: 978-3-905014-32-7
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2007

Besprechung:
Als der spanische Eroberer Pizarro 1532 in der Entscheidungsschlacht bei Cajamarca mit seiner Streitmacht von 183 Soldaten und 37 Pferden den Oberbefehlshaber der über eine Million zählenden indianischen Heerscharen demütigte und den Inkaherrscher Atahualpa gefangen setzte, brach das Reich der Inka in sich zusammen. Es hatte seinen gottgleichen Köng durch einen Stärkeren verloren. Es folgte die beispiellose Zerstörung einer Hochkultur. Eroberungswille, Besitzgier, Machtstreben, koloniales Denken, kurz der Zeitgeist jener Epoche, ließen die Idee, dass es im Lande der „Indios“ so etwas wie Kultur oder Kunst geben könnte, gar nicht erst aufkommen. Zwar wurden durch eine päpstliche Bulle von 1537 die Ureinwohner durchaus als Menschen deklariert, was aber die totale Ausbeutung ihrer selbst und ihres Lebensraumes nicht hinderte. Jahrhunderte später waren es dann zunächst Ethnologen, die aus zufälligen oder amateurhaften Grabungen geborgene Steinarbeiten, Keramiken, Flechtarbeiten und Gewebe in Völkerkundemuseen brachten. Bis zu der Erkenntnis, dass es im Lande der Anden seit prähistorischer Zeit eine Abfolge hoch stehender Kulturen gegeben hat, musste dann nochmals geraume Zeit vergehen. Dieser späten Erkenntnis und dem Zusammentreffen zweier glücklicher Umstände ist es überhaupt zu verdanken, dass wir heute in der Lage sind, grobe Strukturen präkolumbischer Kulturen zu rekonstruieren. Einmal ist das der ausgeprägte Totenkult und die damit verbundene Sorgfalt, durch die die Verstorbenen mit zahlreichen kostbaren Gegenständen bestattet wurden und zum anderen die extrem günstigen klimatischen Verhältnisse. Die Küste von Peru, die mittlere und besonders die südliche, ist fast niederschlagsfrei. Dazu kommt noch der hohe Salz- und Salpetergehalt des Wüstenbodens, der die Gräber, vergleichbar mit einer dünnen Eisschicht, fast hermetisch abschließt, so dass sich selbst so empfindliche Artefakte wie dünne Schleiergewebe oder Federarbeiten über viele Jahrhunderte perfekt und in ihren leuchtenden Farben erhalten haben. Diese textile Kunst des alten Peru erlaubt uns einen Blick auf prachtvolle Gewänder der Eliten, auf phantasievolle Kostüme der Priester und Schamanen und auf die reiche kultische Ausstattung ihrer Götter und Dämonen. Darüber hinaus ist der exquisite Dekor dieser textilen Grabbeigaben neben den wenigen erhaltenen architektonischen Zeugnissen und Arbeiten aus Stein und Keramik der wichtigste Schlüssel für die soziale, religiöse und gesellschaftliche Organisation der damaligen Menschen. Der soeben erschienene, gemeinsame Sammlungskatalog altperuanischer Textilien aus der Abegg-Stiftung und dem Rietberg Museum ist nicht nur eine wertvolle Bereicherung des bisher bekannten und veröffentlichten Materials, sondern er ist darüber hinaus ein Musterbeispiel sorgfältiger Forschung und einer bewundernswerten Kooperation zweier Forschungsstätten. Am Anfang stand die Absicht des Rietberg Museums, seine bis dato nicht wissenschaftliche bearbeitete Sammlung präkolumbischer Textilien zu publizieren. Eine Anfrage nach textiltechnischen Analysen an die Abegg-Stiftung erinnerte dort an den entsprechenden, ebenfalls weitgehend unbearbeiteten Bestand, und so entstand eine fruchtbare Zusammenarbeit und ein 211 Textilien umfassender Katalog. Judith Rickenbach vom Rietberg Museum zeichnet für die kulturhistorischen Beiträge und für die Zuordnung der Textilien, während die gründlichen textiltechnischen Analysen von Nikkibarla Calonder von der Abegg-Stiftung vorgenommen wurden. Die Textilien geben einen nahezu umfassenden Überblick über präkolumbische Arbeiten, denn sie stammen aus allen Regionen und fast allen bekannten Kulturen Perus und sind in der Zeit vom 1. Jahrtausend v. Chr. bis zum 17. Jahrhundert nach Christus entstanden. Gefunden wurden sie nahezu alle in Gräbern im Gebiet der zentralen und südlichen Wüstenküste und dennoch lassen sie sich den verschiedenen präkolumbischen Kulturen zuweisen, die im Laufe der Jahrtausende sowohl im Hochland der Anden als auch in den Oasentälern der Küstengebiete blühten. Grund ist die hohe Wertschätzung, die jene schriftlosen Kulturen gerade den Textilien entgegenbrachten und ein offenbar sehr reger Handelsverkehr, der bewirkte, dass Herstellungs- und Fundort oft weit auseinander liegen. Gewiss bleiben, wie so häufig bei präkolumbischen Artefakten, viele Zuordnungen und Altersangaben ungenau oder spekulativ, doch eines ist sicher: Die Visitenkarte der Menschen im alten Peru war ihre Kleidung. Farbwahl und Motive, die Art der Herstellung und die Feinheit des Stoffes gaben Auskunft über die geographische Herkunft, die kulturelle Identität und über die soziale Stellung des Trägers. Textilien waren wichtige Bildträger bei kultischen und politischen Handlungen von Priestern und Herrschern, sie waren diplomatisches Geschenk und Opfergaben für Gottheiten. Ihre spezifische Ikonographie, häufig stark geometrisch stilisierte Darstellungen von Raubkatzen oder Vögeln oder von mythischen, nicht der irdischen Sphäre angehörenden Wesen, gibt einen Einblick in das animistisch geprägte Weltbild jener Menschen. Über die in dem Katalog nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vorgenommene kulturhistorische Bewertung dieser Textilien hinaus ist es immer wieder die zeitlose ästhetische Sprache präkolumbischer Textilarbeiten, die fasziniert. Jene namenlosen Handwerker, die vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden Formen und Farben aneinandersetzen und zu einem harmonischen Gesamtbild komponierten, waren Künstler, deren Seelen denjenigen eines Paul Klee, Piet Mondrian, Ernst-Wilhelm Nay und anderen Malern der Klassischen Moderne verwandt gewesen sein müssen. Das Buch ist nicht nur eine wertvolle Bestandsaufnahme des aktuellen Wissensstandes über präkolumbische Textilien, nicht nur eine unverzichtbare Hilfe bei der Zuordnung und Datierung von neuen Erwerbungen und Funden, sondern auch eine Entdeckungsreise durch eine faszinierende Welt von Form und Farbe.

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