Harpies, Mermaids and Tulips – Embroidery of the Greek Islands and Epirus Region

Autor/en: Sumru Belger Krody
Verlag: Scala Publishers – The Textile Museum
Erschienen: London – Washington 2006
Seiten: 160
Ausgabe: illustrierte Broschur (Museumsausgabe)
Preis: US-$ 60.–
ISBN: 1-85759-426-6
Kommentar: Michael Buddeberg, Mai 2006

Besprechung:
Es war im Jahre 1916 als George Hewitt Myers, der spätere Gründer des Washingtoner Textile Museum seine ersten griechischen Stickereien erwarb. Sehr früh also waren diesem großen Sammler mit seinen weitgefächerten Interessen an allen textilen Arbeiten die Besonderheiten und Schönheiten der Textilien von den griechischen Inseln aufgefallen. Er blieb ihnen bis zu seinem Tode im Jahre 1957 treu und ein großer Teil der heute über 120 Stücke umfassenden Sammlung des Textile Museum wurde von ihm persönlich erworben. Weit mehr als die Hälfte davon, ergänzt um einige Stücke aus privaten und öffentlichen Sammlungen, insgesamt 72 herausragende Stücke bilden den Bestand einer noch bis zum 3. September 2006 zu sehenden Ausstellung des Textile Museums und des dazu erschienenen Begleitbuches. Es ist ein buntes Kaleidoskop unterschiedlichster Stile, Motive und Techniken und ganz selbstverständlich stellt sich die Frage ein, warum sich gerade auf den griechischen Inseln eine Hochblüte der Stickkunst entwickelt hat, die man getrost als eine der spektakulärsten und bedeutendsten ihrer Art bezeichnen kann. Ein paar Dutzend Inseln nur, am Rande Europas gelegen, am Rande also des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehens, so meint man, und nur als Touristenziel bekannt und von Bedeutung? Doch das war einmal ganz anders. Im klassischen Griechenland etwa wurde die Ägäis als das Zentrum der ganzen hellenischen Welt angesehen. Und seit jener fernen Zeit bis ins 19. Jahrhundert hinein gibt es wohl kaum eine Region in Europa, die eine ähnlich wechselvolle Geschichte vorzuweisen hat und die so vielen verschiedenen Einflüssen aus Ost und West ausgesetzt gewesen ist wie die griechische Inselwelt. Hellas, Rom und Byzanz lösten einander ab, die Mamluken und Kreuzfahrer gaben Gastspiele und manche der Inselstaaten wurden schließlich Teil des Osmanischen Reiches – das sind nur die großen Stationen auf dem wechselvollen Weg durch die Geschichte. Sephardische Juden, türkische und arabische Piraten, slawische und albanische Einwanderer, Kaufherren aus Venedig und Genua, Mönche und Pilger auf dem Weg ins Heilige Land, britische Kaufleute, denen Holländer und Franzosen folgten, sie alle hinterließen mehr oder weniger deutliche Spuren. Und doch, durch die Insellage begünstigt, überdauerten traditionelle, bäuerliche Strukturen alle Eroberungen und Machtwechsel. Die großartigen Stickereien der griechischen Inseln sind das Produkt des Zusammentreffens einer alten bodenständigen, bäuerlichen Tradition mit den Kulturen all der Nationen, die dort eroberten, siedelten oder nur vorüberzogen. Sumru Belger Krody, Kuratorin am Textile Museum, hat sich die Aufgabe gestellt, anhand der so unterschiedlichen Textiltraditionen der griechischen Inseln die komplexen Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der Kreativität und Fantasie der Stickerinnen, den Einflüssen der Inselgesellschaft und den wechselnden politischen, ökonomischen und sozialen Umweltbedingungen zu untersuchen. In sieben großen Kapiteln – Krody folgt hier der traditionellen, geographischen Kategorisierung der Textilien – werden Art und Gebrauch der jeweiligen Stickarbeiten beschrieben, deren Muster, Motive und Herstellungstechniken, vor allem aber die komplexe von Region zu Region, von Insel zu Insel oft ganz unterschiedliche Geschichte und die daraus resultierenden Einflüsse. Es sind im wesentlichen drei Kulturkreise, die ihre prägende Kraft ausübten und für die von Krody der Titel „Harpies, Mermaids and Tulips“ als Metapher gewählt wurde. Harpies sind geflügelte, vogelgleiche Wesen mit Frauenköpfen, wie man sie auf Stickereien der Insel Skyros der Nördlichen Sporaden finden kann. Sie symbolisieren die starken Winde der Ägäis, tragen der Legende nach die Seelen der Toten in den Hades und stehen hier für den griechischen Einfluss Mermaids, mythische Frauengestalten mit zweischwänzigen Fischleibern, Dämoninnen und Schutzgöttinnen zugleich, sind Metapher für den europäischen Einfluss, der vor allem von Venedig ausging und am stärksten in Kreta zum Tragen kam. Die Tulpe schließlich symbolisiert das Osmanische, das vor allem die Stickereien von Epirus, der einzigen in diesen Inselreigen hier eingeschlossenen Festlandsregion im Nordosten Griechenlands, wesentlich beeinflusst hat. Es gelingt Krody überzeugend, darzustellen, dass es der gestalterischen Kraft dieser Inselkulturen zu danken ist, dass diese vielfältigen, fremden Einflüsse in die eigenen, ursprünglichen Volkstraditionen integriert werden konnten und dass daraus etwas unverwechselbares Neues und Kreatives geschaffen wurde. Man versteht am Beispiel dieser Stickereien von griechischen Inseln, wie Politik- und Wirtschaftsgeschichte mit kulturellen Entwicklungen, ja sogar mit konkreter Produktgestaltung und Design eng verwoben sein kann. Die 72 für Ausstellung und Katalog ausgewählten und zum großen Teil erstmals publizierten Stücke sind von hoher Qualität und zeigen beispielhaft die Vielfalt und Schönheit dieser Stickereien. Sie entstanden vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert und sind meist Gegenstände des Brautschatzes. Prachtvolle Bettzelte aus Rhodos, Kissen aus Naxos, die trotz des einheitlichen Stickgarns aus Seide wegen der wechselnden Stickrichtungen in vielen Farbnuancen changieren, opulent bestickte Frauengewänder und Hemden aus Kreta, gestickte Schiffe unter vollen Segeln aus Skyros, florale Muster mit Tulpen, Nelken und in ihm versteckten, bunten Vögeln aus Epirus und naturalistische ebenso wie geometrisch abstrahierte Adler und Hirsche von den ionischen Inseln sollen hier als einige Beispiele dieser Vielfalt genannt werden. Ein Glossar der Sticktechniken, vollständige Struktur- und Materialinformationen, eine reiche Bibliographie und natürlich sorgfältige Farbabbildungen mit vielen Detailwiedergaben entsprechen dem üblichen, hohen Standard der Publikationen des Textile Museum. Daher, wie gewohnt bei Büchern und Katalogen der Textile Museum, eine dringende Kaufempfehlung für jeden Textilfreund.

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