Verletzliche Beute – Spätantike und frühislamische Textilien aus Ägypten

Autor/en: Peter Noever (Hrsg)
Verlag: MAK/Hatje Cantz
Erschienen: Wien/Ostfildern 2005
Seiten: 200
Ausgabe: Klappenbroschur
Preis: € 29.–
ISBN: 3-7757-1699-8
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2006

Besprechung:
Fundort: unbekannt. Dieser stereotyp wiederkehrende Hinweis ist nachgerade typisch für koptische Textilien. Die Entdeckung ägyptischer Nekropolen im Wüstensand war eine der archäologischen Sensationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In wenigen Jahrzehnten wurden hunderttausende von Textilien ausgegraben und in alle Winde zerstreut. Dabei ist klar, dass man von Zufallsfunden oder von den schon damals praktizierten Raubgrabungen keine Dokumentationen von Fundort und Fundzusammenhang erwarten konnte. Aber auch die systematisch von Archäologen betriebenen Ausgrabungen, etwa durch den Franzosen Albert Gayet in Antinoe, wurden nicht präzise aufgezeichnet, und so haben heutige Textilwissenschaftler mit der zeitlichen und örtlichen Einordnung dieser sogenannten koptischen Textilien ihre liebe Not. Zunächst erwies sich schon der damals geprägte Begriff „koptisch“, abgeleitet von der Bezeichnung der christlichen Nachfahren der alten Ägypter, als viel zu eng für diese textile Tradition Ägyptens vom 3. bis zum 8. Jahrhundert. Gewiss hatte das Ägypten jener Zeit ein florierendes Textilhandwerk, aber auch der Handel blühte und Textilien waren schon immer eine begehrte, leicht zu transportierende und Gewinn versprechende Handelsware. Viele der im Wüstensand gefundenen Textilien kamen aus Syrien, Byzanz, Italien oder gar von noch viel weiter her. Und auch die Assoziation von „koptisch“ als „christlich“, erwies sich als unrichtig. Wie bei anderen Kunstgattungen jener Epoche schöpften die Kunsthandwerker und Künstler jener Epoche gleichzeitig aus ganz unterschiedlichen Bildtraditionen und Religionen, wobei vor allem die Ikonographie der klassischen Antike ein wichtiger Lieferant von Bildthemen war. So hat sich denn in den letzten Jahren die Bezeichnung als spätantike und frühislamische Textilien aus Ägypten für diese Funde durchgesetzt und steht daher auch für Katalog und Ausstellung ausgewählter Stücke aus der Sammlung des Wiener MAK (Ausstellung bis zum 5. Juni 2006). Ausstellung und Publikation sind dem großen Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905) gewidmet, unter dessen Leitung das damalige „k.k. Österreichische Museum für Kunst und Gewerbe“ das Fundament dieser heute immerhin mehr als tausend Objekte umfassenden Sammlung gelegt hat. 114 ausgewählte Stücke werden vorgestellt, sorgfältig beschrieben (Texte deutsch und englisch) und in einem Beiheft zu einem großen Teil auch exakt technisch analysiert. Im einleitenden Essay befasst sich Angela Völker unter anderem auch mit dem Problem der Datierung der Funde und orientiert sich hier noch an der in jüngster Zeit zunehmend kritisch betrachteten Methode nach stilistischen und ikonografischen Kriterien. Diese Datierung anhand stilistischer Merkmale geht von der Nähe der Darstellung zur Antike als Hauptkriterium aus. Je naturalistischer, abbildhafter und dreidimensional-illusionistischer Figuren, Tiere oder Blumen, Architektur und Landschaft gestaltet sind, desto früher können sie entstanden sein. Die zunehmende Vereinfachung, Abstraktion und Ornamentalisierung wird als Entfernung von den Prinzipien der Antike interpretiert und steht für eine spätere Entstehung. Radiokarbondatierungen mit überraschenden Ergebnissen zeigen, dass die Wirklichkeit wohl sehr viel komplexer gewesen ist. Unterschiedliche Vorlagen und Vorbilder, individuelle handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten der ausführenden Handwerker und lokale Besonderheiten, allesamt eher kontraproduktiv für eine exakte zeitliche Einordnung, haben wohl eine viel größere Rolle gespielt, als dies Wissenschaftler bisher wahrnehmen wollten. So kann für die Entstehungszeit oft nur ein zwei oder noch mehr Jahrhunderte umfassender Rahmen angegeben werden. Sehr viel weiter ist die Forschung bei den Verwendungszwecken der meist nur in Fragmenten erhaltenen Textilien. Die ursprüngliche Verwendung als Behang, Kissen, Decke, Manteltuch und vor allem als Dekor der Tuniken, dem damaligen Hauptkleidungsstück für Männer, Frauen und Kinder ist fast stets ermittelt und angegeben. Die Dekorationsschemen der Tuniken mit quadratischen und runden Zierstücken (Tabulae und Orbiculi), mit Streifen (Clavi), Abschluss- und Winkelornamenten (Sigillum und Gammadion) sind genau bekannt und so erschließt sich dem mit Vorstellungskraft begabten Leser aus den gezeigten Stücken das bunte und lebendige, von multikulturellen Einflüssen geprägte, textile Straßenbild des urbanen Ägypten aus spätantiker Zeit. Eine wertvolle Bereicherung der Literatur über „koptische“ Textilien.

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