Heybe – Traditionelle Doppeltaschen aus Anatolien

Autor/en: Manfred Bieber, Doris Pinkwart, Elisabeth Steiner
Verlag: Pazyryk Gesellschaft e.V.
Erschienen: Bad Homburg 2004
Seiten: 182
Ausgabe: fester illustrierter Einband
Preis: € 39.50
ISBN: 3-00-014756-X
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2005

Besprechung:
Schon vor 100 Jahren vermochten anatolische Satteltaschen das Interesse europäischer Reisender zu erregen. Der Bonner Geograph Alfred Philippson, studienhalber in den Jahren 1900 bis 1904 in Kleinasien unterwegs, berichtet vom Kauf landestypischer Satteltaschen, „aus zwei verbundenen Säcken gebildet, die auf jeder Seite des Pferdes niederhängen.Sie bestehen aus hübschem bunten Teppichstoff, mit Leder montiert.“ Philippson gebrauchte sie für „die für die Nacht nötigen Effekten, den Mundvorrat, die photographischen Apparate und die gesammelten Steine“ und er hat sie „nachher mit nach Hause genommen, wo sie auf den Fußboden gelegt einen schönen und interessanten Zimmerschmuck abgaben.“ Und einen recht exotischen, muß man aus der Sicht damaliger Dekorationsideen sagen. Philippson war seiner Zeit weit voraus, denn es sollte fast ein Jahrhundert vergehen bis sich der Westen, diesmal Sammler und Forscher, erneut für diese nomadischen Produkte zu interessieren begannen. Den badischen Sammlern Ludwig Reichert, Marita und Hugo Becker, den langjährigen Feldforschungen der Buchautoren, wie auch der Pazyryk Gesellschaft, die dieses Projekt unter ihre Fittiche nahm, ist es zu danken, dass diese liebenswerten, vielfältigen und ausdrucksstarken anatolischen Gebrauchsgegenstände nun in dem Buch „Heybe“ (zugleich Katalog einer Ausstellung im Offenbacher Ledermuseum, bis 14.01.05) einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Und das war auch an der Zeit, denn die jahrhundertealte Tradition des häuslichen Webens und Knüpfens solcher Doppeltaschen ist in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts weitgehend verschwunden, und wenn heute vor Ort noch Belegexemplare zu sehen sind, dann wohl eher auf jeder Seite eines Motorrades niederhängend als auf den Seiten von Pferd oder Esel. Eine von 1978 bis 1997 reichende Fotodokumentation, Auszug aus einem noch der Auswertung harrenden Archiv von ca. 6500 Dias, zeigt die Reste dieser Tradition und schafft einen atmosphärischen Rahmen für die 80 gezeigten Exemplare. Es sind nicht nur bloße Taschenfronten, sondern (fast) durchweg vollständige Exemplare, die zudem auch mit ihren lebhaft bunt gestreiften Rückseiten, mit Ausschnittvergrößerungen und mit sorgfältigen Strukturanalysen vorgestellt werden. Sie stammen alle aus ländlichen Regionen Nordwestanatoliens und wurden von Unterstämmen der Yürüken hergestellt, also von nomadisierenden Hirten, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Sesshaftigkeit gezwungen worden waren. Die Zuschreibungen sind, entsprechend dem fragmentarischen Kenntnisstand vorsichtig und eher als Vorschläge gedacht. Datierungen – ohnehin das diffizilste Thema bei diesen Erzeugnissen – wurden bewusst unterlassen. Dem Vergnügen, die Schönheit und Vielfalt der geknüpften, gewebten und broschierten Kostbarkeiten zu betrachten, zu studieren und zu vergleichen und Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen, tut dies keinen Abbruch. Die Konzentration auf diese Doppeltaschen, die in Form, Maß und Format, dem Gebrauchszweck folgend, bei allen Stücken nahezu identisch sind, offenbart weit mehr als dies eine vom Thema umfassendere Monographie vermag, die Freiheit und das Können der anonymen Weberinnen im Umgang mit Farben, Formen und Mustern. Die Begegnung mit Musterdetails, wie sie aus anatolischen Teppichen und Kelims bekannt sind, die aber auf dem begrenzten Raum der kleinen Taschen ganz anders gruppiert und zusammengestellt ihre ästhetische Wirkung entfalten, ist überraschend und kann begeistern. Das Vergnügen wird unterstützt durch die informativen und klugen Texte von Doris Pinkwart und Elisabeth Steiner. Sie berichten über die Menschen, die diese schönen Taschen gewebt und gebraucht haben und über die Tradition und mögliche Herkunft der Muster. Die jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Thema gibt den Texten trotz ihrer Kürze Kompetenz und Überzeugungskraft. Dasselbe gilt für die detaillierten Ausführungen von Manfred Bieber zur Technologie der Naturstoff-Färberei in Anatolien, ergänzt durch Wasseranalysen und elektronenmikroskopische Untersuchungen zur Beurteilung von Wollfärbungen. Hier bleibt nur eine Frage offen, nämlich in welchem Maße welche Naturfarben bei den Stücken der gezeigten Sammlungen zum Einsatz kamen und in welchem Umfang bereits synthetische Farben angewandt wurden. Gleichwohl ein großes Kompliment an alle Beteiligten – ein gelungenes Buch, das aufgrund seiner Zweisprachigkeit (deutsch/englisch) auch internationale Beachtung finden wird.

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