Nomaden in Anatolien – Begegnung mit einer ausklingenden Kultur

Autor/en: Harald Böhmer
Verlag: Remhöb-Verlag
Erschienen: Ganderkesee 2004
Seiten: 318
Ausgabe: Hardcover illustriert
Preis: EUR 100.–
ISBN: 3-936-713-02-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2004

Besprechung:
Weltweit gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß die Lebens- und Wirtschaftsform des Nomadismus aus ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Gründen verdrängt wird. Mobile Tierhalter werden gezwungen, seßhaft zu leben, neu und willkürlich gezogene Grenzen stehen plötzlich ihrer Mobilität entgegen, ihre Weideressourcen werden zugunsten neu entwickelter widerstandsfähiger Agrarprodukte reduziert, ihre Waren und Dienstleistungen verlieren in einer modernen Ökonomie zunehmend ihre Konkurrenzfähigkeit. Ob im Iran oder in Tibet, in der Mongolei oder in Nordafrika, in Kasachstan, Turmenistan oder in Anatolien – die Nomaden befinden sich überall auf dem Rückzug, ihre uralte Kultur scheint dem Untergang geweiht und im besten Falle bemißt sich die Überlebensprognose nach Jahrzehnten. Parallel zu diesem unaufhaltbaren Prozeß wächst das Interesse an einer Lebensform, an Menschen, deren Leben sich auf das Ursprüngliche und Wesentliche konzentriert, die der Natur ganz nahe sind, die im Rhythmus mit der Natur, mit den Bedürfnissen ihrer Tiere und dem Wechsel der Tages- und Jahreszeiten leben. Das Prinzip, nicht mehr zu besitzen, als man tragen kann, die Freiheit von jeglichem Ballast üben eine Faszination aus, der sich viele nicht entziehen können. Dokumentarfilme und Publikationen über Nomaden, über ihre Lebens- und Wirtschaftsform und ihre materielle Kultur haben Konjunktur und sind wichtige Dokumentationen einer Lebenswelt am Ende einer vieltausendjährigen Geschichte. Die Arbeiten von Goldstein und Beall über die Nomaden Tibets und der Mongolei oder das von Tapper und Thompson herausgegebene großartige Buch über Nomadenstämme im Iran seien hier als Beispiele genannt. Zu ihnen gesellt sich nun ein nicht weniger großartiges Buch über die Nomaden in Anatolien. Der Autor, Harald Böhmer, kam 1960 als Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer an das Deutsche Gymnasium nach Istanbul. Aus dem Interesse für das neue Umfeld wurde eine Leidenschaft, aus dem Ethnotouristen – wie er sich selbst bescheiden bezeichnet – ein Feldforscher und aus dem Lehrer ein anerkannter Wissenschaftler auf dem reichen Gebiet der textilen Kultur anatolischer Nomaden. Nur zwei Jahre nach dem Erscheinen von „Kökboya“, dem großen Handbuch über Naturfarben in Textilien, hat uns Böhmer nun ein Kompendium seiner 40-jährigen Erfahrung mit dem Nomadismus in der Türkei vorgelegt, das uns tief in deren Leben hineinführt. Es ist ein sehr persönliches Buch, geprägt von ganz individuellen Erlebnissen und Eindrücken und vor allem von der langjährigen Freundschaft mit nomadischen Familien, die Böhmer immer wieder besucht hat. Verpackt in dieses Tagebuch aus 40 Jahren ist ein profundes Wissen über yürükische, kurdische und turkmenische Nomaden in Anatolien, über ihre Wanderungen, ihr Leben auf der Yayla, über die Arbeit mit den Tieren und ihren Produkten und vor allem über ihre materielle Kultur, die zu einem wesentlichen Teil eine textile Kultur ist. Wichtiger Bestandteil dieses Berichts ist eine aus mehreren Hundert Farbaufnahmen bestehende, einzigartige Fotodokumentation, nach Böhmer „ohne Anspruch auf Vollständigkeit“, dafür aber von einer Nähe, Intimität und Lebendigkeit als wäre der Fotograf einer von ihnen. Schaf- und Ziegenherden, Nomaden auf der Wanderung und Kamelkarawanen ziehen an uns vorüber. Wir begegnen Musikern, Handwerkern und sogar Zigeunern mit Tanzbären. Ziegen und Schafe werden gehütet, gemolken, gewaschen und geschoren, Frauen bereiten Käse, Yoghurt und Bulgur und Buttern im Faß oder im Ziegenbalg. Fladenbrot wird über dem offenen Feuer oder im Erdofen gebacken, Tee wird zubereitet und dem Gast dargeboten. Fotos und Zeichnungen zeigen Aufbau, Konstruktion und Einrichtung der verschiedenartigsten Zelte vom kleinen Hirtenzelt über Tunnelzelte bis zum 60-qm Zeltpalast eines Stammesführers. Wolle wird gewaschen, getrocknet und zu Filz verwalkt oder sie wird versponnen, gezwirnt und zu Bändern oder Kelims verwoben. Wir sehen schließlich in seltenen fotografischen Dokumenten einen kurdischen Hochzeitszug, Kamelkämpfe und den Aufbau einer turkmenischen Filzyurte. Dies alles, die grandiosen Berglandschaften und zahllose Portraits von Männern, Frauen und Kindern lassen ein vollständiges Bild der Nomaden in Anatolien entstehen. Wir müssen allerdings lesen, daß viele der von Böhmer fotografierten Szenen – die Kamelkarawanen etwa oder turkmenische Yurten, die Brettchenweberei und Kampfkamele – inzwischen Vergangenheit und der eingangs erwähnten Entwicklung zum Opfer gefallen sind. Und so schließt der Bericht auch mit einem nachdenklichen und traurig stimmenden Beitrag über die Zukunft des Nomadentums in Anatolien. Allein dem kurdischen Halbnomadismus in Ostanatolien gibt Böhmer gewisse Überlebenschancen, während der Hochlandnomadismus der Turkmenen bereits nahezu völlig verschwunden ist und der Bergnomadismus der Yürüken zwar noch gelegentlich lebendig, aber dabei ist, zur Touristenattraktion zu verkommen. Im zweiten Teil des Buches widmet sich Böhmer den Textilarbeiten der Nomaden Anatoliens. Dem, was Böhmer noch an Ort und Stelle in den vergangenen vierzig Jahren dokumentieren konnte – Kelims, Broschiergewebe, Transport- und Aufbewahrungssäcke, fast ausschließlich aus synthetisch gefärbter Wolle – stellt Böhmer etwa 100 bisher unveröffentlichte alte und antike Arbeiten aus amerikanischen und europäischen Sammlungen gegenüber. Große und kleine Kelims, einige Knüpfteppiche, Kamelschmuck und Taschen, allesamt textile Kunstwerke, gewinnen im Kontext dieses Buches, im Zusammenhang mit dem Einblick in das Leben der Nomaden Anatoliens, eine ganz neue Qualität und Aussage. Texte über die Farben in den alten Kelims, über die mögliche Herkunft und Bedeutung immer wiederkehrender Muster, ein illustrierter Überblick über 10.000 Jahre Kulturgeschichte in Anatolien und eine umfangreiche Bibliografie führen weit über das Thema hinaus und machen aus dem Buch ein unentbehrliches Handbuch und Nachschlagewerk für jeden an Anatolien Interessierten. (Bestelladresse: Remhöb-VerlaG; Alter Wehrgraben 36, 27777 Ganderkesee, koekboya@natural-dyes.net)

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