Die Farbe Henna – Bemalte Textilien aus Süd-Marokko

Autor/en: Annette Korolnik-Andersch, Marcel Korolnik
Verlag: Arnoldsche Verlagsanstalt
Erschienen: Stuttgart 2002
Seiten: 144
Ausgabe: Hardbound
Preis: ca. EUR 35,–
ISBN: 3-89790-178-1
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Der Anti-Atlas im Süden Marokkos bildet die Grenze zwischen dem Maghreb, der von seiner Vegetation und seinem Klima noch dem Mittelmeerraum angehört, und der schon ganz afrikanischen Nordsahara. Mit Ausnahme kleiner, von Menschen mühsam gepflegter Oasen ist der Anti-Atlas eine fast vegetationslose, steppen- bis steinwüstenartige Bergregion, ein den Menschen nicht gerade Wohlgesonnener Lebensraum, der für die dort lebenden Berber-Stämme gerade mal eine halbnomadische Lebensweise zulässt. Wie alle Nomaden haben auch die Berber im Anti-Atlas – sie nennen sich selbst Imazighen – eine hoch entwickelte Textilkultur mit mehrfarbigem Dekor in komplizierten Web- und Sticktechniken. An der Südflanke des zentralen Anti-Atlas jedoch lebt ein kleiner Berber-Stamm, die Feija, deren Textilien auf sehr ungewöhnliche Weise gestaltet und verziert sind: Ihre Gewebe sind mit dem pflanzlichen Farbstoff Henna bemalt. Entdeckt wurden diese eigenartigen Textilien erst vor wenigen Jahren und sie entwickelten sich dank ihrem graphischen Design und ihrer urtümlichen Ausdrucksstärke rasch zu gesuchten Sammelstücken. Das wird auch so bleiben, denn das Gebiet der Feija ist klein, beschränkt sich auf einige Dörfer, und vor allem ging diese Tradition, das Wissen um die Technik der textilen Henna-Malerei etwa um die Mitte des 20. Jahrhunderts verloren. Mit dem Buch über Die Farbe Henna, einem Katalog, der eine Ausstellung von 32 dieser Textilien von Zürich (bis 05.01.03) über Mönchengladbach (09.02. – 29.03.03), Locarno (Sept./Okt. 03) und Karlsruhe (17.04. – 25.07.04) bis nach Santa Fe (15.06. – 15.09.04) begleitet, liegt nun eine erste und überaus gründliche Feldstudie über die Feija und ihre Textilien vor. Zentraler Gegenstand der Untersuchung sind die gemalten Muster dieser Wickel- und Kopftücher, architektonische Motive, amulettartige Darstellungen und schließlich geheimnisvolle, an Schriftzeichen erinnernde Symbole. Und dieser erste Eindruck täuscht nicht: Die Tuareg, ein mit den Feija eng verbundener Berber-Stamm, der seit jeher den Karawanenhandel mit Gold, Silber, Salz und Sklaven beherrschte, hatte als einziger aller Imazighen-Stämme ein Alphabet, das tifinagh. Diese tifinagh-Schriftzeichen finden sich auf Felsbildern der Sahara, auf Dokumenten natürlich – und auf den Textilien der Feija. Tifinagh besteht aus ca. 40 geometrischen Zeichen, deren Symbole – Punkte, Quadrate, Dreiecke, Punktlinien usw. – bis heute noch nicht eindeutig entschlüsselt werden konnten. In den Textilien der Feija haben die geometrischen Buchstaben ihre ursprüngliche Bedeutung wohl nie innegehabt, sondern sind in neue, ästhetische Funktionen geschlüpft, gewannen eine neue Bedeutung als Ornament und Dekor, vor allem aber neue magische Inhalte: Sie weisen schädigende Geister ab, helfen gegen böse Blicke und Zungen, bringen aber auch Segen und schützen vor Krankheit. Den nämlichen Amulettcharakter besitzen natürlich auch all die gewebten, geknüpften oder gestickten Zeichen und Symbole anderer, längst bekannter Berbertextilien und es stellt sich die Frage, warum gerade dieser kleine Stamm der Feija mit der Farbe Henna ein so ungewöhnliches Gestaltungsmittel wählte. Waren es die bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse, das mangelnde Vorkommen von Färbepflanzen, die Abwesenheit von Färbern oder der Wunsch nach eigenständiger Gestaltung, der sie zu Henna greifen ließ? Oder war es die magische Bedeutung von Henna, das nicht nur Grundlage für wohlriechende Öle und Parfums ist, das in der Volksmedizin vielfältig Anwendung findet und das in ganz Marokko zur Tatauierung von Gesicht, Füßen und vor allem Händen dient, natürlich auch wieder, um den bösen Blick abzuwehren? Wie dem auch sei, die textile Gestaltung durch Bemalen mit Henna ist ungleich spontaner als jeder andere Dekor und deshalb von ganz eigener Qualität. Die so auf die Gewebe gebannten Motive sind von atemberaubender Schlichtheit und beeindruckender Expressivität zugleich. Als Beispiel soll hier ein haik, ein Wickeltuch genannt werden, dessen Dekor aus einem einzigen, vielfach abgewandelten Zeichen des tifinagh-Alphabetes besteht, die sich zu einem Reigen tanzender Figuren voller Spannung und Anmut zusammenfügen, ein mit den einfachsten Mitteln gestaltetes, vollendetes Kunstwerk. (- mb -)

Print Friendly, PDF & Email