Tiwanaku – Ancestors of the Inca

Autor/en: Margaret Young-Sánchez
Verlag: Denver Art Museum & University of Nebraska Press
Erschienen: Lincoln & London 2004
Seiten: 216
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: US-$ 40.–
ISBN: 0-8032-4921-7
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2005

Besprechung:
In einer der großartigsten Hochgebirgslandschaften dieser Erde, in dem zu Peru und Bolivien gehörenden Altiplano, umgeben von den schneebedeckten Gipfelketten der Anden, liegt in einer Höhe von 3.800 Metern der größte bekannte Hochlandsee. Der Titicacasee ist heute von einer vegetationsarmen, kargen, nur dünn besiedelten Hochgebirgswüste mit extremen klimatischen Bedingungen umgeben. Nur mühsam ringen die Nachfahren der Inka dem Boden landwirtschaftliche Produkte ab oder leben von der Zucht von Lamas. Das war einmal ganz anders. Die Ruinen von Tiahuanaco (engl. Tiwanaku), der größten südamerikanischen Ausgrabungsstätte, etwa 30 Kilometer südöstlich des Titicacasees, sind Zeugnis einer bedeutenden und machtvollen Stadt von einstmals vielleicht 40.000 Einwohnern in einer blühenden und fruchtbaren Landschaft, die die Bevölkerung der Region, wohl eine halbe Million Menschen, bestens zu ernähren vermochte. Verlauf und Konstruktion der teils unterirdisch verlaufenden Kanäle vermitteln noch heute ein Bild hochentwickelter Bewässerungstechnik. Die Kultur von Tiahuanaco umfasst das ganze erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung und hatte ihre Blütezeit zwischen 300 und 600. Die ausgegrabenen Reste dieser Stadt, der „Akapana“, ein künstlicher Hügel, die „Kalasasaya“, der Palast der Sarkophage, eine von mächtigen, aus Steinblöcken gefügten Mauern mit Reliefköpfen umgebene, tiefergelegte Fläche, das mit Steinreliefs verzierte Sonnentor und megalithartige Steinstelen beeindrucken durch ihre Monumentalität, ihre kraftvolle Relief-Sprache und geben ungelöste Rätsel auf. Wie alle präkolumbianischen Kulturen gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen und auch mündliche Überlieferungen sind durch die gründliche spanische Eroberung komplett abgeschnitten worden. Das historische Wissen um Tiahuanoco war Ende des 16. Jahrhunderts vollständig verloren. Alles, was man heute weiß, ist aus den archäologischen Fundstücken der materiellen Kultur von Tiahuanaco rekonstruiert worden. Eine Ausstellung des Denver Art Museum und das eindrucksvolle Katalogbuch, beides Marksteine in der Aufarbeitung dieses Themas, zeigen eindrucksvoll den heutigen Stand der Forschung. Keramik, Metallarbeiten, Goldschmuck, Skulpturen aus Stein, Kultgegenstände aus Holz, Bein und Knochen geben einen Einblick in die ökonomische, soziale und sprirituelle Welt dieser frühen andeanischen Hochkultur. Die führende Rolle bei den Zeugnissen dieser untergegangenen Kultur kommt aber zweifellos den Textilien zu. Ihre Muster verraten mehr als jedes andere Medium über die Menschen, über ihre Kreativität und über ihre religiösen Überzeugungen und Rituale. In der Kultur von Tiahuanaco waren Textilien, wie auch in anderen präkolumbianischen Kulturen, wohl die angesehenste und innovativste Kunstform, und auch in ihrer Zeit das wesentliche Medium, in dem die komplexe Ikonographie in eindrucksvollen künstlerischen Kompositionen verwirklicht wurde. Grabbeigaben, gefunden nicht in den Ausgrabungsstätten von Tiahuanaco sondern in den trockenen Küstenregionen belegen, dass Textilien mindestens derselbe materielle Wert beigemessen wurde wie Gegenständen aus Gold. Aufgrund der klimatischen Bedingungen der Fundstätten präsentieren sich die meisten der gut zwei Dutzend, überwiegend noch nie zuvor gezeigten Textilien aus Museen und vor allem privaten Sammlungen in einem fantastischen, kompletten und farbfrischen Erhaltungszustand. Es sind hochentwickelte textile Produkte in einer glänzend beherrschten, komplizierten Wirktechnik, die Fragen nach den unbekannten Ursprüngen dieser Kunstform provozieren, die aber wohl kaum je beantwortet werden können. Neben vielfarbigen, geometrisch gemusterten Kopfbedeckungen mit charakteristischen Zipfeln an den vier Ecken, Schals und Beuteln, sind es vor allem Tuniken, in Teilen aber auch komplett, wohl die Zeremonialkleidung hochgestellter Persönlichkeiten, die das geheimnisvolle ikonographische Repertoire der Weber von Tiahuanaco zeigen. Im Zentrum der Darstellungen finden wir stets das von Strahlen umgebene Gesicht der zentralen Gottheit von Tiahuanaco, regelmäßig umgeben von übernatürlichen Wesen oder prächtig geschmückten Priestern. Die Bedeutung der Symbolik bleibt bei allen Erklärungsversuchen rätselhaft, jedoch ist die Beherrschung von Farbe und Form Textilkunst in höchster Vollendung. Die Essays der Autorin und namhafter weiterer Wissenschaftler beleuchten alle Aspekte der Kultur von Tiahuanaco, ihre Wurzeln in der religiösen Yama-Mama-Tradition und ihren unübersehbaren Einfluß auf die nachfolgende Kulturen der Wari und der Inka, . Ein schön gestaltetes Buch, das mit hervorragenden Abbildungen und vorzüglichen Textbeiträgen einen Einblick in die Formensprache eine frühen präkolumbianischen Kultur gewährt.

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