Kelim – Textile Kunst aus Anatolien

Autor/en: Sabine Steinbock, Harry Koll
Verlag: Kelim-Connection
Erschienen: Aachen 2002
Seiten: 126
Ausgabe: broschiert
Preis: EUR 35,– bis zum 31.12.2002, danach EUR 55,–
ISBN: 3-926779-78-0
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
In seinem Beitrag über eine Gruppe von Kelims aus den Bergen westlich von Konya, gemeinhin als „Baklava“ bekannt, bezeichnet Michael Bischof den sich heute so intensiv um den Kelim bemühenden Kreis von Sammlern, Forschern, Liebhabern und anderen Autodidakten – wobei er sich selbst durchaus nicht ausnimmt – als eine „Laienspielschar“. Erst ein ausgewähltes Team aus Ethnologen, Turkologen und historischen Geographen sei in der Lage, die Geheimnisse der Textilkultur bestimmter Regionen, insbesondere die Fragen der ethnischen Herkunft von Kelims zu klären. Eine Utopie wahrscheinlich, denn wer könnte ein solches Team bilden und, vor allem, wer soll das bezahlen? Doch sei hier ein Zweifel geäußert: Ist es heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, nicht ohnehin zu spät für derartige Vorhaben? Sind die Spuren nicht schon zu lange verwischt? Wer anders als die Kelims selbst kann heute noch Fragen beantworten? Schließlich aber widerlegt sich Michael Bischof selbst mit seinem fundierten Beitrag über einige kleine Bergdörfer der Region, ihre geographische und ethnische Situation und über die – möglicherweise – dort entstandenen Kelims, ihre Muster und ihre Farben. Das ist durchaus kein Laienspiel! Diese Aussage gilt für das ganze Buch (Katalog einer Ausstellung im Textilmuseum Krefeld – bis zum 05.01.2003 – und von August bis Oktober 2003 in der Pfalzgalerie Kaiserslautern), für die ausgewählt schönen oder seltenen alten und antiken Kelims auf den 64 Farbtafeln sowieso, aber auch für die Textbeiträge, die, interessant sowohl für den Laien wie für den Experten, zahlreiche Aspekte des anatolischen Kelims behandeln. Der Kelim als Kulturgut und Sammelobjekt, der relative Maßstab der Schönheit als Bewertungskriterium oder die Interaktion zwischen Material und Technik, Bild und Idee sind nur einige der behandelten Themen. Zwei weitere seien hier herausgegriffen: Die Verwendung von Kamelhaar in anatolischen Kelims ist selten und bisher weder in ästhetischer noch in technischer Hinsicht genauer untersucht. In diesem Buch sind nun gleich einige Kelims vorgestellt, deren eigentümliche und ungewöhnliche Ausstrahlung auf dem Einsatz von Kamelwolle beruht. Das ist jedenfalls die nachvollziehbare These der Autoren Steinbock und Koll, die die Verwendung dieses von der üblichen Wolle so unterschiedlichen Materials mit seinem weichen Griff und dem sanften, milden Glanz, als ein bewusst eingesetztes Mittel der Gestaltung ansehen. In Wort und Bild wiedergegebene Analysen mit dem Rasterelektronenmikroskop scheinen diese These zu bestätigen. Ein ganz neues Kelimthema also, dessen Diskussion nun eröffnet ist. Das leitet über zu einem weiteren interessanten Kapitel: Kelims mit Kamelwolle haben meist ein Streifendesign, und diese Streifenkelims sind der zweite wichtige Diskussionsbeitrag in Ausstellung und Buch. Heinz Meyer, Soziologe, Psychologe und Philosoph, heute wohl einer der ersten Experten zu Fragen der textilen Kunst (Heinz Meyer, Textile Kunst, Frankfurt et al. 2000 – siehe Ausgabe November 2000), leistet einen lesenswerten Beitrag zur Ästhetik und Symbolik von Streifenkompositionen in der textilen Kunst. Das in der Natur eher seltene Streifendesign -sieht man vom Zebra, bestimmten dekorativen Fischen oder vom Regenbogen einmal ab – wird vom Menschen seit jeher dazu benutzt, sich selbst oder ihm wichtige Dinge besonders hervorzuheben. Die Körperbemalung bei Naturvölkern, Flaggen als wichtigste nationale Symbole, der Nadelstreifenanzug das Mannes von Welt ebenso wie die Sträflingskleidung, Krawatte, Hemd und Stola sind hierfür Beispiele, die sich beliebig verlängern lassen. Für Meyer repräsentiert der Streifen die Anwesenheit des menschlichen Geistes im Natürlichen. Die strenge geometrische Gestaltung von Allee, Ackerfurche und Hecke ist Resultat der menschlichen Ratio im Gegensatz zur Unregelmäßigkeit der allgegenwärtigen Biomorphen Form, die dem emotionalen und affektiven Bereich zuzuordnen ist. Übertragen auf den Kelim spricht der großgemusterte oder Kultkelim das Gefühl an, was sein Überleben als Kult- und Ritualobjekt ermöglichst und gesichert hat im Gegensatz zu dem für den täglichen, praktischen, rationalen Gebrauch bestimmten Streifenkelim, der in der Regel restlos verschlissen, verbraucht und weggeworfen wurde. Dieser rationale Gebrauchszweck und die ästhetische, ja künstlerische Qualität mancher Streifenkelims sind kein Widerspruch, wie einige der Kelims (z.B. auf Tafel 58 oder Tafel 26) belegen. Die grafische, farbliche und gestalterische Qualität der besten Exemplare dieser Streifenkelims, lässt die Befürchtung wach werden, dass ein wesentlicher Bestandteil der textilen Kunst Anatoliens zu spät entdeckt und beachtet wurde, ein Dekorelement, das vermutlich ganz am Anfang der Entwicklungsgeschichte des textilen Designs gestanden hat. Wie schon in dem ersten Buch „Kultkelim (Besprechung September 1999) ist auch hier wieder der Versuch, Gedanken, Meinungen und Diskussionen um den anatolischen Kelim lebendig zu halten, glänzend gelungen. Der Laienspielschar um Sabine Steinbock und Harry Koll ein Kompliment und ein Dankeschön für das Engagement und für die schönen Kelims. (- mb -)

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