Fabulous Creatures from the Desert Sand – Central Asian Woolen Textiles from the Second Century BC to the Second Century AD

Autor/en: Dominik Keller, Regula Schorta
Verlag: Abegg Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2001
Seiten: 156
Ausgabe: softbound
Preis: SFR 85.–
ISBN: 3-905014-17-3
Kommentar: Michael Buddeberg, August 2001

Besprechung:
Shanpula, 30 Kilometer südöstlich der Oasenstadt Khotan am Südrand der Wüste Taklamakan gelegen, ist zunächst nur eine von vielen archäologischen Fundstätten, die im 20. Jahrhundert im östlichen Zentralasien entdeckt wurden. Die Entdeckung von Grabstätten in Lop Nor, Astana, Subeshi, Loulan oder Yingpan, um nur einige zu nennen, und die dank des extrem trockenen Klimas vorzügliche Erhaltung der Grabbeigaben, vor allem der Textilien, hat unser Wissen um frühen west-östlichen Kulturaustausch außerordentlich bereichert. Bei vielen dieser Funde handelte es sich um Gräber von Fürsten und Stammesführern, belegt durch die Schönheit und Kostbarkeit der Grabbeigaben. Ganz anders Shanpula: Einfachste, nur selten und sparsam verzierte Gefäße aus Holz und Keramik, keine Waffen und keine Luxusgüter, wenig und bescheidener Schmuck, kaum Metallgeräte, keine Jade und keine Edelmetalle, Schaf- und Ziegenhörner, Körner und Früchte, lassen auf eine eher arme, agropastorale Gemeinschaft schließen. Auch die reichen Textilfunde in Shanpula bestätigen diese Annahme: Abgetragen, vielfach geflickt und mühevoll aus Einzelstücken zusammengesetzt, sind sie Beleg für die Armut dieser Menschen aber auch für ihre Liebe und Sorgfalt, die sie auf ihre textilen Besitztümer verwandten. Sie sind die wahre Sensation von Shanpalu! Die charakteristischsten dieser Textilien sind knöchellange, wollene Frauenhemden, die mit in Schlitzkelimtechnik ausgeführten Bändern verziert sind. Diese Bänder sind von einer derartigen technischen und künstlerischen Perfektion, von einer Schönheit und Farbenpracht, von einem Zauber und einer Ausstrahlung, daß sie Shanpula zur bedeutendsten archäologischen Entdekung des ausgehenden 20. Jahrhunderts gemacht haben. Ein Team von Forschern und Experten aus China, USA und der Schweiz hat diese Textilien untersucht und auf einem internationalen Kolloquium im Jahre 1999 diskutiert. Ergebnis ist die als Band 10 der Riggisberger Berichte vorliegende Publikation über die Fabelwesen aus dem Wüstendsand, eine herausragend wichtige, textilwissenschaftliche Veröffentlichung. Die Abegg-Stiftung konnte eine eindrucksvolle Anzahl dieser Shanpula-Textilien, darunter die sicher bedeutendsten, der bis heute gefundenen, erwerben und zeigt sie parallel zur Publikation in einer Ausstellung (bis 4.11.2001). Die Originalität und Schönheit dieser Bänder, ihre technische und künstlerische Qualität ist ebenso groß wie das Rätsel, das sie uns aufgeben. Dargestellt sind Hirsche mit phantastischen Geweihen, Pferde, Kamele und Ziegen, menschliche Gestalten, Berge und Bäume, Blumen und Ornamente und mythische Tiere, geheimnisvolle Fabelwesen, die in langer Prozession von links nach rechts schreiten. Die Komposition dieser Gestalten und Ornamente im definierten engen Raum der Bänder, der Variationsreichtum ihrer Verzierung und die Wahl und Gegenüberstellung der Farben sind einzigartig und – das ist die eigentliche Sensation – sie entsprechen keiner heute bekannten Webtradition. Vergleichbare Textilien mit ähnlichen Szenen, Bildern, Kompositionen und Farbzusammenstellungen sind bis heute nicht bekannt geworden, weder in Xinjiang, noch sonst in Zentralasien oder irgendwo in der Welt. Fragen drängen sich auf: Wer waren diese Leute von Shanpula, woher kamen sie, was taten sie? Diese und viele andere Fragen sind bis jetzt nicht und vielleicht nie zu beantworten. Die sorgfältigen und reich illustrierten Beiträge versuchen, Parallelen oder Vorbilder zu finden und verfolgen Spuren zur skythischen Formenwelt aus den Kurganen von Pazyryk, zu den eurasischen Sarmaten, deren goldene Hirschen bei Filippovka im südlichen Ural gefunden wurden, Spuren auch bis nach China und in das iranische Hochland. Ein Beispiel auf einem der Bänder ist die Szene, in der ein berittener Jäger in phantasievoll farbenfroher Kleidung, begleitet von einem papageiartigen Falken, seinen gespannten Bogen auf ein Fabelwesen richtet, halb Ziege, halb Mensch, verziert mit Geweih und Höcker, mit Pfauenfedern und Ziegenbart. Die Wurzeln dieses Zigenmannes lassen sich in der westasiatischen Mythologie bis ins 4. Jahrtausend zurückverfolgen, und verwandte Darstellungen finden sich in China, im Altai und in Kasachstan. Es bleibt die Feststellung und das große Rätsel, wie in einer kleinen und bescheidenen Gemeinschaft eine hochkünstlerische Textilproduktion entstehen konnte, wie sich die Kultur von Shanpula trotz ihrer Lage an der Seidenstraße in einer Art kultureller Isolation entwickeln und ein halbes Jahrtausend Bestand haben konnte. Vielleicht und hoffentlich geben weitere Funde in Xinjiang künftig Antwort auf diese Fragen. Bis dahin bleibt der Genuß und die Freude an diesen textilen Kunstwerken. Ihre Freiheit und ihr Variationsreichtum in Form und Farbe lassen vermuten, daß die dargestellten Wesen keine ikonographische Bedeutung hatten, sondern daß die Shanpula-Textilien eine frühe Form freien künstlerischen Ausdrucks sind. Läßt man den ästhetischen Ausdruck der einzelnen Stücke auf sich wirken, so glaubt man gar Spuren künstlerischer Individualität zu entdecken. Doch wie dem auch sei, die Form- und Farbenwelt, die ungemein talentierte Meisterweber vor zweitausend Jahren schufen, ist für das durch die Kunst des 20. Jahrhunderts geschulte Auge alles andere als fremd. Otmar Alt, Heinz Trökes oder Hans Arp könnten in Shanpula gewesen sein. Farbanalyen, C-14-Untersuchungen aller Gewebe und eine ausgewählte Bibliographie runden das Buch zu einem wertvollen Besitz für den Textil- und Kunstfreund. (- mb -)

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