Bizarre Seiden

Autor/en: Hans Christoph Ackermann
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2000
Seiten: 440
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: SFR 320.–
ISBN: 3-905014-16-5
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Die eindrucksvolle Sammlung der Abegg-Stiftung umfaßt derzeit etwa 7000 Textilien von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Vorhaben der Herausgabe eines vollständigen wissenschaftlichen Sammlungskataloges verspricht daher ein textilgeschichtliches und kunsthistorisches Grundlagenwerk wie es seinesgleichen sucht. Band 1 aus dem Jahre 1995 mit der Darstellung Mittelalterlicher Textilien aus Ägypten, Persien und Mesopotamien, aus Spanien und Nordafrika hat hier erste Maßstäbe gesetzt und der nun vorliegende zweite Band über die sogenannten bizarren Seiden löst das Versprechen abermals in grandioser Art und Weise ein. Bizarre Seiden sind ein Kapitel der europäischen Seidenindustrie, das im Gegensatz zu den älteren und selteneren Textilien aus dem Mittelalter von der Textilforschung bisher eher stiefmütterlich behandelt worden ist. Vor allem die Herkunft, Land und Ort der Produktion, bei frühen Textilien durch Stilvergleich, Technik, Farben und Muster oft kein Rätsel mehr, war und ist bei den Seidengeweben mit den ungewöhnlichen Mustern sehr umstritten. Kein Wunder, entstanden sie doch an einem Wendepunkt der europäischen Textiltradition als das Primat der Seidenweberei in Europa nach der jahrhundertelangen Vorherrschaft Italiens an Frankreich überging. Venedig und Lyon sind denn auch die meist genannten Herkunftsorte, nachdem eine Außenseitermeinung, die in den bizarren Mustern indische Gewebe vermutete, heute durchweg abgelehnt wird. Doch auch in Spanien, Holland und England finden sich Indizien für die Herstellung solcher Gewebe. Die Abegg-Stiftung hat wohl weltweit die umfangreichste Sammlung dieser ungewöhnlichen Textilien, Ausdruck der Wertschätzung und Liebe die schon Werner Abegg (1903 – 1984) diesen kostbaren Stoffen entgegenbrachte. Nicht weniger als 75 Exemplare, ein knappes Drittel des heutigen Bestandes gelangten durch frühe Schenkungen des Stifterpaares in die Sammlung. Margarete Abegg nahm dann nach dem Tode ihres Mannes weiter prägenden Einfluß auf die Sammlung und den Sammlungschwerpunkt bizarre Seiden. Sie starb 1999 und ihrem Andenken ist dieser Band 2 der Sammlungskataloge gewidmet. Was ist nun das Besondere und Gemeinsame an dieser außergewöhnlichen Stilform der bizarren Muster, an diesen barocken Seidenstoffen, die das 17. und das 18. Jahrhundert verknüpfen, Stoffen, die eine relativ kurze Zeit zu den teuersten und qualitätvollsten Produkten der damaligen Luxusindustrie gehörten? Gemeinsam ist ihnen die Kombination von Einzelmotiven unterschiedlicher, sehr oft orientalischer Herkunft, in einer Zusammenstellung ohne erkennbare sinnvolle Zusammenhänge und dies in häufig ganz unterschiedlichen Größenverhältnissen. So sind die Einzelformen dieser Muster sind oft nur mit Schwierigkeiten zu beschreiben, was vor etwa 70 Jahren zu der heute gebräuchlichen Bezeichnung „bizarre Seiden“ geführt hat. Ein Teil der Beschreibung des vielleicht bekanntesten und extremsten dieser Stoffe in der Abegg-Stiftung mag als Beispiel für das „bizarre“ dienen: „Links eine Seeschlange mit einem Band mit Troddeln im Maul, mit umgehängtem Seetang und mit drei parallelen, pfeilartigen Gebilden mit Pfauenaugen über dem Schwanzende ….(und so weiter)“. Auslöser dieser so eigenartigen Stilform war sicher der Einfluß der massiven Importe von ostasiatischer Kunst und Kunsthandwerk im 17. Jahrhundert, für den die verschiedenen Ostindischen Kompanien sorgten. In den Vorstufen, den vom Autor so genannten „frühbizarren Seiden“, sind auch Einflüsse aus der osmanischen und indischen Textilkunst feststellbar, jedoch dominieren dann ganz klar chinesische und japanische Einflüsse. In der „hochbizarren“ Phase, etwa von 1700 bis 1705 sind chinesische Deckelgefäße, japanische Samuraischwerter, Bücherbündel, Musikinstrumente, Räuchergefäße, Fächer sowie Blumen, Blüten und Pflanzen ostasiatischen Ursprungs mehr oder weniger deutlich auszumachen. Bizarre Seiden waren damit ein grandioser Auftakt einer Mode, die das ganze 18. Jahrhundert prägen sollte, die Mode der Chinoiserie. Der Autor des Bandes, H. Chr. Fuhrmann, Direktor der Abegg-Stiftung, unternimmt erstmalig eine Einteilung dieser kostbaren, meist mit Gold- oder Silberfäden broschierten Damaste und Lampas-Gewebe nach Zeit und Muster. Eine Gruppe von Vorstufen zeigt die Anfänge dieses europäischen Exotismus in der späten zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hier deutet sich das langsame Eindringen orientalischer Motive in die europäische Textilkunst bereits an, das dann in den abstrakten und großflächigen Mustern der hochbizarren Zeit ihren kurzen aber eindrucksvollen Höhepunkt findet. Später, ab etwa 1711, machen die phantastischen, oft futuristisch anmutenden Motive langsam einem aufkommenden Naturalismus Platz. Blumen, Architekturmotive, Rocaillen, Blütenzweige treten hinzu und drängen die bizarren Motive in den Hintergrund. Interessant und im letzten Kapitel behandelt ist eine kurze Renaissance der bizarren Muster zur Zeit des Historismus. Die oft wirre Vielfalt der Formen bei den bizarren Seiden kam dem typischen Stilmerkmal der Übertreibung im Historismus entgegen. Es versteht sich, daß jeder der 227 vorgestellten Stoffe genau beschrieben, nach Material und Technik analysiert, ausführlich kommentiert und, in der Regel farbig, abgebildet ist. Ein technischer Anhang mit Zeichnungen der Gewebekonstruktionen, mit Hinweisen auf Vergleichsbeispiele und mit einem umfänglichen Literaturverzeichnis runden den Band ab. Textile Forschung auf höchstem Niveau. (- mb -)

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