Zwei Bücher über Europäische Stickereien

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Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2010

Besprechung:

Uta-Christiane Bergmann, Europäische Stickereien 1250-1650, Band 3 der Kataloge des Deutschen Textilmuseums Krefeld, Schnell und Steiner, Regensburg 2010, 400 Seiten, Hardcover, € 49,90, ISBN 978-3-7954-2399-5

Uta-Christiane Bergmann, Annemarie Staufer (Hrsg), Reiche Bilder – Aspekte zur Produktion und Funktion von Stickereien im Spätmittelalter, Schnell und Steiner, Regensburg 2010, 128 Seiten, Hardcover, € 29,90, ISBN 978-3-7954-2409-1

Nadel und Faden als Mittel künstlerischen Schaffens sind heutzutage kaum noch anzutreffen. Seit Gewebe und ihre Verarbeitung, selbst kostbare Materialien wie Seide und Goldfaden, zu industriell hergestellten Massenwaren geworden sind, hat textiles Gestalten seine Wertschätzung fast ganz verloren. Sticken verbindet sich mit Handarbeit und Hausfleiss, und Stickereien sind allenfalls noch auf Omas Kaffeetafel geduldet. Das war einmal anders. Tommaso Garzoni, Chronist der Berufe seiner Zeit, schreibt in seinem berühmten Ständebuch (Venedig 1585) von der „Kunst der Stickerei“, und das will einiges heißen, denn zu jener Zeit wurde der Begriff Kunst deutlich elitärer verwendet als dies heute der Fall ist. Dass die Stickerei damit in der Nähe der Malerei platziert wird ist kein Zufall, denn die Bildstickerei befand sich in Spätmittelalter und Renaissance auf einem technischen und künstlerischen Höhepunkt, der später auch nicht annähernd wieder erreicht wurde. Sticken war ein anerkannter Zeig des Kunstschaffens, professionelle Stickerinnen und Sticker genossen hohes Ansehen und in manchen städtischen Ständeordnungen gehörten Gold- und Seidensticker derselben Zunft an wie die Maler. Der soeben erschienene Bestandskatalog des deutschen Textilmuseums Krefeld ist diesem Höhepunkt der Stickkunst in Spätmittelalter und Renaissance gewidmet. Ein parallel erschienener Band mit Veröffentlichung von Beiträgen eines 2008 in Krefeld vom Deutschen Textilmuseum veranstalteten Symposiums zur Erforschung mittelalterlicher Textilien rundet das Thema ab und vertieft den einen und anderen Aspekt über die Herstellung, Wertschätzung und wirtschaftliche Bedeutung von Stickereien vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Viele der insgesamt 233 sorgfältig beschriebenen und abgebildeten, überwiegend noch niemals zuvor publizierten Objekte sind fragmentarisch, was einen Grund in der Geschichte der Sammlung hat. Das heutige Deutsche Textilmuseum wurde vor 130 Jahren als Vorbildersammlung der Krefelder Textilindustrie zur Förderung der Nachwuchsausbildung der Krefelder Textilingenieurschule gegründet. Die dem damaligen Zeitgeist entsprechende Idee einer Mustersammlung sah Fragmente als ausreichende Träger zur Vermittlung vor allem der textiltechnischen Informationen an. Entsprechend hoch, ja fast unübersichtlich, ist die Vielfalt der dokumentierten Sticharten, der Sticktechniken und der verwendeten Materialien für Stickfaden, Untergrund und Zutaten. Die per definitionem ausschließlich dekorative Funktion der Stickens führte zu einer vollkommenen Freiheit in der Wahl der Mittel: Erlaubt ist, was die Phantasie hervorbringt, und die Bemerkung der um eine Systematisierung ihrer Objekte bemühten Autorin, dass das Denken der Sticker und Stickerinnen geradezu von der freien Variation bekannter Techniken und Gestaltungsweisen geprägt war, ist durchaus als ein Stoßseufzer zu verstehen. Wie dem auch sei, es ist spannend, dieser Phantasie der Sticker und Stickerinnen durch ein Studium ihrer Werke nachzugehen, die Kombination bekannter Techniken und Materialien und ihrer Neuerungen zu verfolgen und zu fragen, wer eigentlich hinter diesen Werken stand. Wie kamen die Sticker zu ihren Einfällen und Lösungen, für welchen Zweck gestalteten sie ihre Werke. Wer waren sie überhaupt und unter welchen Bedingungen arbeiteten sie? Stickten sie privat oder gegen Entgelt zu Hause, im Kloster, in professionellen Werkstätten in Städten oder auf dem Land? Welche Werkzeuge und Materialien standen ihnen zur Verfügung? Wer entwarf die Muster und Bilder oder waren sie frei in der Gestaltung? Diese und noch viele weitere Fragen drängen sich angesichts der eindrucksvollen Vielfalt des publizierten Bestandes auf, wobei das fragmentarische eines großen Teils der Objekte ihre Entschlüsselung noch umso spannender macht. Für diese Entschlüsselung ist der ausführliche, einleitende Textteil und sind die 8 Essays der begleitenden Symposiumspublikation ebenso unentbehrlich wie lesenswert. Ausgehend von der in einer mittelalterlichen Ritterdichtung des 12. Jahrhunderts zum Ausdruck gebrachten über alles andere hinaus gehenden Wertschätzung eines kostbar mit Gold bestickten Mantels aus Seide, wird dem Leser die herausragende Rolle von Luxustextilien in jener Zeit bewusst. Als Seide noch nicht in Europa selbst hergestellt, sondern weither aus dem Nahen und Mittleren Osten eingeführt wurde, war sie Luxus und Reichtum in höchster Form. Entsprechend war auch Kleidung in der mittelalterlichen Ständegesellschaft ein Zeichen von Reichtum, Macht und gesellschaftlicher Stellung, ein Mittel, sich von unteren Gesellschaftsschichten abzuheben und abzugrenzen. Die überproportional hohen Kosten solcher Kleidung wurden seit dem 13. und 14. Jahrhundert noch durch vielfältige Kleiderordnungen ergänzt, die mit meist nur geringem Erfolg versuchten, etwa durch abgestufte Anwendungssystematik von Gold- oder Silberstickerei zusätzliche Abgrenzungskriterien zu schaffen. Neben dieser Luxuskleidung und der immer gebräuchlicher werdenden textilen Raumausstattung waren Kirche und Gottesdienst ein weiteres Feld für textile Kunst, die sich zudem wegen der günstigeren Überlieferungssituation in Sakristeien und Kirchenschätzen ungleich zahlreicher bis in unsere Tage erhalten hat. Um den Gläubigen die christliche Lehre vor Augen zu führen, schienen Bilder am besten geeignet, und an den Paramenten war dieser Bilderschmuck fast ausschließlich mittels Stickereien herzustellen. Die sich im 13. und 14. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Zentren entwickelnde christlich-ikonographische Bildstickerei brachte eine ungeahnte, perspektivisch realitätsnahe Darstellungsweise. Fast noch exquisiter als die Kunstmaler selbst verstanden es die Stickmeister jener Zeit, nicht nur einen Realismus mit Licht- und Schattenführung, Tiefenräumlichkeit und dramatischer Darstellungskraft zu erzielen, sondern auch den golden schimmernden Grund und die farbig schattierten Seidenstiche zu einem Bildraum höherer Realitätsstufe auszuformen und in einen Farb- und Goldglanzzauber zu verwandeln. Die beiden Bücher erfassen damit die hohe Zeit der Stickkunst und sind mit der umfassenden Auswertung aller verfügbaren Quellen, einem Überblick über die Entwicklung und den Stand der Forschung und dem Versuch, jedenfalls einen Teil der sich stellenden Fragen zu beantworten ein unverzichtbares Kompendium für jeden Kenner und Liebhaber europäischer Stickereien.

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