The Turkic Speaking People – 2000 Years of Art and Culture from Inner Asia to the Balkans

Autor/en: Ergun Cagatay, Dogan Kuban (Hrsg)
Verlag: Prestel Verlag
Erschienen: München Berlin London New York 2006
Seiten: 496
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: € 75.–
ISBN: 978-3-7913-3515-4
Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2006

Besprechung:
Das Buch kommt zur rechten Zeit. Die Türkei steht vor den Toren der Europäischen Union und die Frage, ob dieses Land, das sich zum muslimischen Glauben bekennt und dessen größerer Teil auf dem asiatischen Kontinent liegt, einen Platz im europäischen Staatenverbund finden kann und soll, bewegt Parlamente ebenso wie Stammtische. Wer sind die Türken, woher kommen sie, wo liegen ihre Traditionen? Es sind Fragen, die keiner so recht beantworten kann und auf die weder Nachschlagewerke noch das Internet befriedigende Antworten geben. Dem türkischen Journalisten und Fotografen Ergun Cagatay wurden diese Fragen während seiner mehrjährigen Rekonvaleszenz zur Obsession. Ergun Cagatay, Opfer eines der Turkish Airlines geltenden Anschlags der armenischen Terrororganisation ASALA auf dem Pariser Flughafen Orly, fasste den Plan zu diesem Buch in den dem Anschlag folgenden langen und qualvollen Krankenhausnächten. Das war vor einem Vierteljahrhundert. Die eigentlich unerwartete Realisierung dieser Idee begann dann mit dem überraschenden Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums und der Möglichkeit für Cagatay, die Spuren der Türken bis nach Zentralasien zurückzuverfolgen. 100.000 Reisekilometer, 30.000 Fotos und 13 Jahre später ist der fotodokumentarische Beitrag Cagatays in diesem Buch, mit Hunderten von Aufnahmen von Sibirien bis Berlin, von Nomaden in der mongolischen Steppe bis zu Handwerkern am Fließband bei den Kölner Ford-Werken, von Kunst, Architektur und von türkischen Speisen und vielen anderen mehr ein Schlüssel zum Verständnis von Kultur und Tradition turksprachiger Völker. Der andere besteht in den fast drei Dutzend Essays, mit denen der Weg eines Volkes von den nomadischen Ursprüngen im Dunkel der Prähistorie zu einer prägenden zivilisatorischen Kraft in Eurasien beschrieben wird. Die Klammer ist die Sprache. Die Türken ebenso wie die Turkmenen, aber auch die Uiguren und Kasachen, die Krim-Tartaren und die Azeri in Azerbeidschan, die Tuviner in Sibirien und die Gagauz in Moldavien, Usbeken, Kirgisen und eine ganze Anzahl weiterer Völker sprechen Turksprachen. Sie alle haben denselben nomadischen Hintergrund, der die Darstellung des Weges durch die Geschichte so schwierig aber auch so spannend macht. Die turksprachigen Nomaden Eurasiens hinterließen keine schriftlichen Zeugnisse, sie waren überall und nirgends, ihre Spuren finden sich in China, Indien und im Iran, in Ägypten, Russland, Litauen und auf dem Balkan. Die chinesische Wei-Dynastie des 6. Jahrhunderts ist ebenso von ihnen geprägt wie das Weltreich des Dschingis Khan und das Kaiserreich der Moghulen in Indien. Alle diese von Turkvölkern geprägten Staaten oder Staatengebilde hatten etwas Ungewöhnliches, sie waren multilingual, multiethnisch und multireligiös. Das vorliegende Kompendium der Geschichte turksprachiger Völker erfasst zwei Jahrtausende Eurasien von den Grenzen Chinas bis nach Mitteleuropa. Es ist der Bericht von der Entwicklung und Wandlung kultureller Systeme im Zusammentreffen mit anderen Völkern und anderen Kulturen. Kulturen sind, so wird einem durch dieses Buch bewusst, dynamische Systeme, die nehmen und geben und sich fortdauernd gegenseitig beeinflussen. Ein reines „Türkentum“ hat es daher nie gegeben und wird es nie geben. Die Turkvölker und ihre vielschichtige Kunst und Kultur sind das Produkt solcher Symbiosen. Der von den Herausgebern gewählte Weg, dieses überaus komplexe Thema von namhaften Autoren, meist Turkologen, in einzelnen, thematisch abgegrenzten Essays zu behandeln, ermöglicht es dem Leser, sich dieser Materie in kleinen, spannenden und oft überraschenden Schritten zu nähern und sich die Verbindungen selbst zu erschließen. So berichtet etwa der Essay von Eva Csato Johanson von dem heute kleinsten turksprachigen Volk, den Karaimern, die in Trakai, einige Kilometer westlich von der litauischen Hauptstadt Wilna leben. Sie kamen dort im späten 14. Jahrhundert an und haben eine talmudische Religion mit islamischen und alttestamentarischen Elementen bewahrt. In einem anderen Essay von Astrid Menz liest man über die Gagauz, ein Turkvolk mit orthodoxem Glauben, das in Moldavien lebt. Überhaupt spielt die Religion als kulturprägendes Element eine eminent wichtige Rolle. Beispiele hierfür sind der noch immer praktizierte Schamanismus bei den Jakuten im nördlichen Sibirien oder der Buddhismus bei den Uiguren Sinkiangs. Am weitesten verbreitet unter den turksprachigen Völkern aber ist der Islam, dessen Renaissance in Zentralasien nach 80 Jahren sowjetischer Unterdrückung und dessen moderne, gelebte Praxis von Innerasien bis nach Anatolien Gegenstand weiterer Essays sind. Schließlich ist auch die türkische Küche ein Grenzen übergreifendes, verbindendes Element und hier sind es die Illustrationen zu dem kulinarischen Aufsatz von Tugrul Savkay, die Fotos von „Noah´s Pudding“, Aufnahmen von einem usbekischen Pilaw-Koch oder aus einer azerbeidschanischen Baklava-Bäckerei, die dieses nahrhafte Kulturgut appetitanregend vermitteln. Appetit auf Reisen machen schließlich die Beiträge zur Kunst und Architektur. Kunsthandwerk aus zentralasiatischen Museen, eine Hommage an die architektonische Genialität der kasachischen Yurte und die Schönheit der Sakralbauten aus Buchara, Samarkand, Istanbul und Edirne lassen Reiselust aufkommen und sind Zeugnisse von der Entwicklung und dem Reichtum einer eindrucksvollen Zivilisation. „The Turkic Speaking People“ ist die denkbar beste Einführung in Vergangenheit und Gegenwart der türkischen Welt. Bilder und Essays vom Aufbruch eines nomadischen Reitervolkes aus den Steppen und Bergen des Altai in die Geschichte, vom Einzug der Turkvölker in die mediterrane Welt, vom Aufstieg der Seldschuken, von der Entstehung und dem Verfall des Osmanischen Reiches bis hin zur heutigen Türkei geben eine reiche Auswahl von Antworten auf die eingangs gestellten Fragen.

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