Heaven has a Face, so does Hell – The Art of the Noh Mask

Autor/en: Stephen E. Marvin
Verlag: Floating World Editions
Erschienen: Warren (USA) 2010
Seiten: 2 Bände, 416, 262
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag im Schuber
Preis: USD 300,00
ISBN: 978-1891640-32-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2012

Besprechung:
Ganz am Anfang war es Stephen Marvin so ergangen wie fast jedem westlichen Besucher, der von einem wohlmeinenden Japaner als Teil der Einführung in die japanische Kultur in ein No-Theater geführt wird: Verhaltene Neugier auf das Unbekannte wandelt sich in Langeweile bevor noch eine halbe Stunde vergangen ist. Obwohl in Japan lebend und an japanischer Kultur interessiert vergaß Marvin das Geschehen – bis ihn Jahre später unverhofft und plötzlich eine Begegnung mit den von den Schauspielern des No-Theaters getragenen Masken in ihren Bann zog und daraus eine Leidenschaft erwuchs, die Leidenschaft, diese Masken zu sammeln und alles über ihre Geschichte und Funktion zu erfahren. Marvin musste feststellen, dass Kenntnis und Verständnis des No-Theaters auch in Japan dünn gesät waren und es über die Masken so gut wie keine Literatur gab, nicht in Japan und nicht im Rest der Welt. Die wichtigste Publikation zum Thema, die zweibändige Dissertation des deutschen Reisenden, Sammlers und Kunstkenners Friedrich Perzynski „Die Masken der japanischen Schaubühne – No bis Kyogen“, war schon 1925 in Berlin erschienen, im Antiquariatbuchhandel kaum zu finden und entsprechend teuer. Zwei Jahrzehnte leidenschaftliches Sammeln und Forschen und der Wunsch, diese außergewöhnliche Kunst einem westlichen und selbst dem japanischen Publikum näher zu bringen, führten zu einer ganz außergewöhnlichen Publikation: Marvins Sammlung von 149 No-Masken hoher und höchster Qualität, vorgestellt in einem edlen Tafelband, in dem jede einzelne Maske mit ihrer Vorder- und Rückseite sorgfältig abgebildet und beschrieben wird, und ein eindrucksvolles Textbuch von über 400 Seiten, in dem alles nachzulesen ist, was man über No-Masken wissen kann und das natürlich auch eine Einführung in die Geschichte und Grundzüge des No-Theaters enthält, ist ab Erscheinen und weltweit das maßgebende Standardwerk zu den Masken des No-Theaters.

Masken sind seit Urzeiten Bestandteil fast aller Kulturen. Unter ihnen nimmt die für das No-Theater geschaffene Maske wegen ihrer Jahrhunderte alten Tradition und ihrer ästhetisch-intellektuellen Funktion eine Sonderstellung ein. Sie ist eng verbunden mit dem japanischen Schwert- oder Kriegeradel, den Samurai. Entwickelt wurde sie aus volkstümlichen Vorläufern in der Muromachi-Zeit (1133-1573), etwa in der Mitte des 14. Jahrhunderts und erlebte in der Zeit der Momoyama bis in die Anfänge der Edo-Epoche, also bis in das 17. Jahrhundert ihre Blüte. Ganz am Anfang stand Kan´ami Kiyotsugu und seine Kanze-Theatergruppe aus Nara, vor allem aber sein Sohn Zeami (1363-1443), der als Begründer des klassischen, bis heute gepflegten No-Theaters gilt. Die No-Bühne ist sehr schlicht gehalten. Die Rückwand der Bühne ist mit einer alten Kiefer bemalt, der Rezitatorenchor und die ihn begleitenden Musiker sitzen auf der Bühne. Die Schauspieler deuten die Handlung, häufig eine Mischung aus Realität und Irrealem, von Sterblichen und Unsterblichen, zwar durch Rezitation, Gesang und Tanz an, doch sie bringen die Geschehnisse nicht konkret zum Ausdruck. Die mittelalterlich lyrische Sprache, die mit einer speziellen Intonation vorgetragen wird, ist selbst für Japaner nur schwer und meist nicht vollständig zu verstehen. Der Hauptdarsteller und sein begleitender Darsteller – immer nur Männer – tragen Masken, die neben den besonderen Kostümen für die Ästhetik und Atmosphäre des Schauspiels verantwortlich sind. Es sind die Masken, die den Schauspieler seine eigene Individualität verlieren lassen und es ihm ermöglichen, Handlungen und Inhalte des Stückes zu kommunizieren und die Gedanken, Gefühle und Eigenheiten der dargestellten Charaktere zu vermitteln. Die Eigenart japanischer No-Masken liegt darin, dass sie in möglichst neutraler Form den Gesichtsausdruck alltäglicher Menschen – von den vielen fantasievollen Göttern und Geistern abgesehen – nachahmen und so abhängig von Bewegung, Gestik, Licht und Sprache beliebige Emotionen transportieren können. Die Augen sind das wichtigste Ausdrucksmittel, aber auch Mund, Lippenhaltung, Zähne, Haartracht, Bart und Falten dokumentieren Alter, Status und geistigen Zustand des Charakters. Etwa am Anfang des 17. Jahrhunderts war die Entwicklung des Kanons der Masken abgeschlossen. Es gibt nach der Nomenklatur von Marvin zehn Grundtypen, darunter Dämonen, buddhistische Gottheiten, Frauen, junge Männer, alte Krieger und Götter, alle mit Dutzenden von Variationen, deren jede einzelne einen genau definierten Ausdruck und einen überlieferten Namen besitzt. Die Masken der Sammlung Marvin, darunter viele mit identischer Funktion und Namen ermöglichen dank Abbildung und Beschreibung eine Annäherung an diese verfeinerte Kunst und ein Verständnis für die Sorgfalt und das Können der Schnitzmeister, die in der Regel auch selbst die Bemalung vornahmen. Es sind durchweg Originale, meist aus der frühen Edo-Zeit, manche reichen zurück in die frühen Perioden von Muromachi und Momoyama, und bei vielen ist aufgrund der Signatur oder des Brandzeichens der Künstler namentlich bekannt. Eine so durch Betrachten, Studieren und Vergleichen der Masken hervorgerufene Neugier über die Entstehung und Entwicklung dieser Kunst kann durch den Textband mehr als nur befriedigt werden. Die Rolle der großen Samurai-Familien bei der Pflege des No-Theaters, die Organisation der Künstler in Gilden, das Material für die Herstellung der Masken, eine japanische, mindestens dreihundertjährige Zypresse, die Namen der verehrten Heiligen und Großen Meister bis hin zur Pflege und Aufbewahrung der Masken, die am besten in einem Seidenfutteral und in hölzerner Truhe erfolgt – alles wird von Stephen Marvin sorgfältig behandelt und steht durch Gliederung, Glossar und Index trotz der Fülle von Text und Information gezielt zur Verfügung. Den Hauptteil des Textbandes aber nimmt die Beschreibung der einzelnen Typen der Masken und der Rollen ein, die sie im Theater verkörpern. So ist das Werk, obwohl den Masken gewidmet, zugleich ein komplettes Kompendium zu den Stücken des No-Theaters, seinen Inhalten und der vielfältigen Ikonographie ihrer Charaktere, vom jungen Mädchen bis zur alten Frau, bösen und guten Geistern und Dämonen, mutigen Helden und alten Kriegern und einem Pantheon unterschiedlichster Gottheiten, Heaven has a Face, so does Hell, Gesichter des Himmels und der Hölle. Große Hochachtung und Bewunderung für den Autor!

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