Die Kunst der Holzkonstruktion – Chinesische Architekturmodelle

Autor/en: Winfried Nerdinger (Hrsg)
Verlag: Architekturmuseum der TU München, Jovis Verlag
Erschienen: München und Berlin 2009
Seiten: 176
Ausgabe: Klappenbroschur
Preis: € 35,00
ISBN: 978-3-86859-049-4
Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2009

Besprechung:
Architektur eignet sich in besonderem Maße zum Wahrzeichen. Der Eiffelturm von Paris, die Zwillings-Zwiebeltürme der Münchner Frauenkirche, die Silhouette des Kölner Doms oder die Tower-Bridge in London – fast jede große Stadt in Europa besitzt ein solches Wahrzeichen, das, obwohl Ausdruck einer ganz bestimmten Epoche dennoch zum dauerhaften Wiedererkennungssymbol wurde. Auch China hat solch ein architektonisches Wahrzeichen. Seit das ferne Reich der Mitte im Westen bekannt wurde, ist der anmutige Schwung seiner Tempeldächer zum Wahrzeichen Chinas geworden. Das weit über den Baukörper auskragende Walmdach mit den an den Ecken leicht nach oben schwingenden Traufen war vor allem während der Chinamode des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Bestandteil fast jeder Chinoiserie, zierte Tapeten, Stoffe und Porzellan, war auf Bildern und Grafiken zu sehen und fand Nachahmungen in meist höfischen Architekturkopien. Das Dorf Mou-lang in Kassel, die Pagodenburg im Park des Schlosses Nymphenburg, die Große Pagode im königlichen Schlossgarten von Kew Gardens in London oder der Chinesische Turm in Münchens englischem Garten sind hierfür nur einige Beispiele. Doch wie kann ein bestimmtes Architekturdetail über Jahrhunderte und noch länger mit einem ganzen Land verknüpft sein, noch dazu mit einem solchen Riesenreich wie es China ist? Die kaum bekannte Lösung dieses Rätsels kann bis zum 24. Januar 2010 im Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne und in einem besonders empfehlenswerten Katalog entdeckt und studiert werde. Die für individuelle europäische Architekturwahrzeichen so untypische Uniformität, die charakteristische und fast immer gleiche Form chinesischer Tempeldächer ist rein konstruktiv und funktional bedingt, ist direktes Abbild und Ausdruck einer kompliziert-perfekten Holzkonstruktion. Zu sehen ist dies an 17 Architekturmodellen der Chinesischen Akademie für Kulturelles Erbe in Peking, die zum ersten Mal außerhalb Chinas gezeigt werden und die einen Einblick in ein einzigartiges, Jahrtausende altes, modulares Holzbausystem gewähren. Seit jeher ist ganz China sowohl durch Erdbeben wie auch durch besonders starke Stürme gefährdet. Schon im fünften Jahrtausend vor unserer Zeitrechung versuchten chinesische Zimmerleute dem durch bestimmte Holzverbundtechniken zu begegnen. Etwa ab der Zeit der streitenden Reiche (403-221 v.Chr), vor allem aber zur Zeit der Han-Dynastie (221 v. bis 208 n.Chr.) entwickelte sich daraus ein Baukörper aus locker auf einer festen Basis stehender Säulen, die über ein horizontal ausladendes, mehrfach geschichtetes Kraggebälk aus Platten, Konsolen und schrägen Trägern ein extrem schweres Ziegeldach tragen. Während der Tang-Dynastie (618-907) erreichte dieses System seine Blüte. Die Östliche Haupthalle des Buddhaglanz-Tempels in Wutai in der Provinz Shanxi, der im Jahre 857 errichtete Foguangsi, ist ein Paradebeispiel für diese Architektur. Sein genaues Modell ist in München zu sehen. Dieses zweitälteste, heute noch stehende Holzgebäude Chinas dient Lothar Ledderose in seinem Essay über Module und Massenproduktion im chinesischen Holzbau als ideales Objekt, um das Konstruktionsprinzip zu erläutern. Das hochkomplizierte Konsolengewerk, das die schwere Dachlast über die Säulen auf das Fundament abträgt – die Wände haben keine tragende Funktion – besteht nur aus vier Typen von Holzbauteilen, aus den Platten oder Auflagern, den Konsolen sowie horizontalen und schrägen Trägern, die jeweils sich vielfach wiederholende Module bilden. Jedes dieser vorfabrizierbaren Bauteile hat eine spezifische und relativ komplizierte Form, alle sind mit einer ebenso raffinierten wie komplexen Technik ohne jeden Nagel miteinander verzapft und verbunden und bewirken, dass das Gebäude verblüffend flexibel und dennoch extrem robust ist. Die innere Reibung der vielen Verbindungen in den Konsolenverbänden ist entscheidend für die Dämpfung und Verteilung der Kräfte aus plötzlich auftretenden, insbesondere horizontalen Stößen, die Erdbeben für Gebäude so gefährlich machen. Zahlreiche heute noch existierende Tempelbauten aus der Tang-Dynastie aber auch aus den Dynastien der Song und Ming, auch in ausgesprochenen Erdbebengebieten, sind ein sichtbarer Beleg für die Zweckmäßigkeit dieser Konstruktion. Das extrem schwere Dach – chinesische Ziegeldächer haben bis zum vierfachen Gewicht vergleichbarer europäischer Dächer – in Verbindung mit dem Kraggebälk gewährt die notwendige Standfestigkeit auch gegen schwerste Stürme und Taifune. Die Konstruktion hat dann noch den praktischen Vorteil, den weiten Dachüberstand zu ermöglichen, der Säulen und Wände aber auch Gläubige und Pilger im Sommer vor der starken Sonnenhitze und im Winter vor Schnee und Regen schützt. Das so harmonisch geschwungene Dach ist also eine durch und durch funktionale Zweckkonstruktion, die über Jahrhunderte nicht nur bei Tempeln, sondern bei allen öffentlichen Gebäuden Chinas Anwendung fand. Allerdings verkam die Konstruktion während der letzten Kaiserdynastie der Qin (1644-1911) mehr und mehr zum reinen Dekor und war zu Anfang des 20. Jahrhunderts so gut wie vergessen. Dem chinesischen Architekturwissenschaftler Liang Sicheng und einigen alten Holzbaumeistern aus der Verbotenen Stadt, dem Pekinger Kaiserpalast, ist es zu danken, dass sich die Architekturforschung dieses Themas annahm und dass zur Dokumentation dieser Technik nach und nach diese großartigen Modelle entstanden. Der Katalog beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe der Modelle und der konstruktiv wichtigen Details, sondern er zeigt darüber hinaus die noch bestehenden Originalbauten in ihrem landschaftlichen Umfeld, mit ihrer Ausstattung an Skulpturen und mit interessanten Einzelheiten. Die Essays berichten unter anderem über die erstaunlich knappe chinesische Literatur zum Thema: so existiert eigentlich nur ein Fragment eines Handbuches aus dem frühen 12. Jahrhundert, das allerdings weniger die konstruktiv-funktionale als vielmehr die ökonomische Seite dieser Bautechnik beschreibt. Wir lesen über das Phänomen, dass China im Gegensatz zu Europa den Begriff der Architektur im Sinne einer individuellen, vom Zeitgeist geleiteten und sich doch von ihr bewusst abhebenden Gebäudegestaltung nicht kennt. Im Vordergrund steht in China bei der Errichtung von Bauwerken die Geomantie, also die mit Ritualen, Astronomie und Astrologie verbundene Bestimmung des richtigen Zeitpunktes für das Schlagen des Bauholzes und den Baubeginn, die Ausrichtung des Bauwerkes und seine Lage in der Landschaft. Das Rätsel des so harmonisch geformten chinesischen Tempeldaches und seine vollendete Einbettung in die umgebende Landschaft findet damit eine weitere Antwort außerhalb von Funktion und Architektur und macht einmal mehr verständlich, warum diese Dachform zum Wahrzeichen eines ganzen Landes werden konnte.

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