Der Yangtze – Chinas Lebensader

Autor/en: Ann Helen Unger, Walter Unger
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2004
Seiten: 320
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: EUR 75.80
ISBN: 3-7774-2025-5
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2004

Besprechung:
Bei den Chinesen heißt er nicht Yangtze, sondern hat viele verschiedene Namen, so wie er auch viele verschiedene Gesichter hat, je nachdem, ob er durch enge Schluchten tost oder träge durch chinesisches Tiefland fließt. Goldsandfluß, Tigersprungfluß oder Langer Fluß sind solche Namen aber auch Schicksalsfluß. Kein anderer Fluß in China hat neben der Fruchtbarkeit, die er schenkt, dem Land auch so viele verheerende Überschwemmungen beschert, wie der Yangtze, und das noch niemals so schwer und in so rascher Folge wie im 20. Jahrhundert. Wenn im Frühsommer auf dem tibetischen Hochplateau sich Gletscher- und Schneeschmelzwasser sammeln und über den Yangtze und seine zahlreichen Nebenflüsse in den Provinzen Hubei und Hunan die Tiefebene erreichen, ist die Lage immer kritisch. Wenn dann noch – verhängnisvollerweise zur gleichen Zeit – gewaltige Monsunniederschläge hinzukommen, ergeben sich extrem gefährliche Hochwasser, meterhohe Flutwellen, Dammbrüche und Flutkatastrophen. Ob „Schicksalsfluß“ oder „Lebensader Chinas“ – diese Charakterisierungen lassen aber noch an etwas anderes denken: Fast die Hälfte seiner 6.400 Kilometer Länge fließt der Yangtze durch Provinzen, in denen nicht Han-Chinesen leben, sondern sogenannte Minderheiten, vor allem Tibeter. Zwar liegen die in weit über 5000 Meter Höhe gelegenen Quellregionen des Yangtze in der chinesischen Provinz Qinhai, doch historisch ist diese Region das tibetische Amdo. Auch im weiteren Verlauf, wenn der bereits mächtig gewordene Fluß südwärts durch die Schluchten von Sichuan strömt, ist das zugleich auch das tibetische Kham. Tibet oder China – um diese zwar militärisch und politisch-pragmatisch, nicht aber völkerrechtlich gelöste Frage, schreiben sich die Autoren des schönen Buches über den Yangtze vorsichtig herum. Doch die Bilder und Karten sprechen hier eine deutliche Sprache: Mindestens ein Viertel seines Weges zum Gelben Meer fließt der Yangtze durch das historische Tibet. Erst nach einem Abstecher in Chinas südlichste Provinz Yünnan und einem Besuch bei dem Volk der Yi, wendet sich der Yangtze nach Osten und erreicht, nachdem er sich durch die gewaltigen Schluchten zwischen dem Jadedrachen-Schneeberg und dem Haba-Schneeberg gezwängt hat, bei Chongqing chinesisches Kernland. Er erreicht dort China beim Aufbruch in das 21. Jahrhundert. Bei Chongqing beginnt die von den Engländern im 19. Jahrhundert begründete Schiffahrt auf dem Yangtze. Kreuzfahrtschiffe, Frachtkähne, russische Tragflächenboote und, wenn sich nach Fertigstellung des größten Staudamms der Welt der Yangtze in einen 640 Kilometer langen Stausee verwandelt hat, sogar Hochseefrachter, befahren dann einen Flußabschnitt, der wegen seiner Felsbänke, Treibsandfallen und tückischen Strudel einstmals gefürchtet war. Gigantische Baustellen und zum Untergang bestimmte Dörfer, Städte und Landschaften prägen heute diesen Abschnitt des Yangtze. Das China, das der Yangtze dann auf seinem Weg durch die fruchtbaren Provinzen Hunan und Hubei zum Meer durchströmt, wird immer moderner, die Städte, etwa Wuhan oder Nanjing immer größer, bis er dann – schon am Mündungsdelta gelegen – in Schanghai in der Metropole des modernen China ankommt. Eine ulttramoderne Wolkenkratzer-Skyline, glitzernde Hotelhallen und elegante Shopping-Malls lassen fast vergessen, daß dies nur eine schmale Fassade ist vor einem reichen und vielfältigen Hinterland und vor einem ungemein abwechslungsreichen Flußlauf. Das Buch über diese 6400 Flußkilometer ist ein Buch über das China von heute, über seine seine Schönheiten und seine Probleme und über die Menschen, die in diesem Land leben. Raubbau an Landschaften, Wasserverschmutzungen und veraltete Industriereviere werden ebenso gezeigt wie Naturdenkmäler, alte Pagoden, Heiligenschreine und traditionellen Terrassenanbau. Vor allem aber zeigen die Fotos Handwerker, Taubenzüchter, Schulkinder, Reisbauern, Hafenarbeiter, tibetische Hirten, Marktbesucher, Flußschiffpassagiere, Orangenverkäufer, Soldaten, Netzfischer, Rentner, Säuglinge, Minenarbeiter, Töpfer, Mönche, Radfahrer, Schauspieler und viele andere mehr, stets in einem Umfeld, das in einer Beziehung steht mit dem Leben am Fluß. Knappe einführende Texte geben Einblicke in die Geschichte, erzählen Anekdoten und berichten über große und kleine Dinge, über Wichtiges und Unwichtiges vom Leben an der Lebensader Chinas. Ein schönes, einfühlsames und erzählendes Bilderbuch über das China von heute.

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