Korea

Autor/en: Jeong-Hee Lee-Kalisch, Wolfgang Fritz (Fotos)
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2002
Seiten: 216
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: EUR 55,–
ISBN: 3-7774-9350.3
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
So etwa könnte das Paradies auf Erden aussehen: Eine große Halbinsel, umspült vom Pazifik, pittoreske Küsten mit großen und kleinen vorgelagerten Inseln, im Inneren Felsenberge, Wasserfälle, muntere Bäche, bewaldete Hügel, fruchtbare Täler mit sauberen, fischreichen Flüssen, ein mildes Klima mit ausgeprägten Jahreszeiten. Lichte Wälder mit Bambus und Gingko, Ahorn und Pinie. Pflaumenblüten- und Granatapfelbäume bieten Platz für allerhand bunte Vögel, während in ihrem Schatten Gemüse, Obst und Pilze heranreifen, und Päonien, Chrysanthemen und Azaleen das Auge erfreuen. Es ist Joseon, das Land der Morgenstille, und inmitten dieses Zauberreiches liegt das Märchendorf eines Einsiedler-Königreiches. Die Rede ist von Korea, und aus dem Märchendorf, von dem ein europäischer Reisender vor hundert Jahren berichtete, ist eine 12-Millionenstadt geworden. Seoul ist das Märchendorf, die Hauptstadt des Tigerstaates Korea, der auf eine beispiellose Entwicklung zu einem modernen Industriestaat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückschauen kann Die Stadt scheint heute eine Metropole zu sein wie jede andere, mit Wolkenkratzern, internationalen Edelboutiquen, Fastfood-Restaurants, Diskotheken, hastenden Menschen in global geläufiger Kleidung, business as usual – und doch ist in Seoul etwas anders als anderswo. Alte Stadttore, Tempel, traditionelle Paläste und zauberhafte Gärten und Parks unterbrechen das moderne Einheitsbild und vermitteln selbst in der Großstadt etwas von dem höchsten Ideal des Koreaners, etwas von seinem Streben nach dem Leben im Einklang mit der Natur. Die Wohnblocks, die in der Vororten der großen Städte wie Bambussprossen aufschießen, scheinen zwar gegen das Prinzip dieser Lehre zu sprechen, doch selbst in der Enge moderner Stadtwohnungen versucht der Koreaner die uralten Gesetze der Geomantik zu befolgen, die Gesetze von Wind und Wasser, die es lehren, in Harmonie mit den Energieströmen der Natur zu leben – und sei es, dass er nur seine wenigen Möbel nach uralten Regeln in der Wohnung platziert, deren eine etwa lautet: „Legt man das Haupt zum Schlafen gegen Osten, wird man reich, legt man es gen Süden, wird ein langes Leben gewährt.“ Das Buch zeigt ein Land, von dem wir wenig wissen, ein Defizit, das auch die gelegentlichen Schlagzeilen in der Politik und im Wirtschaftsteil der Zeitung nicht aufzufüllen vermögen. Das Buch zeigt das Korea von heute und bettet es ein in eine 6000 Jahre alte Geschichte, in Jahrhunderte zurückreichende Traditionen und in die vielfältigen religiösen Überzeugungen und Lehren. Ein Schwerpunktthema ist die Architektur, die Koreanische Baukunst, und sie ist ein Schlüssel für dieses Land, für seine Geschichte und für die Geisteshaltung seiner Bewohner. Seit dem Altertum suchen die Koreaner nach den Theorien für Wind und Wasser günstige Standorte für ihre Wohnungen, für Tempel, für öffentliche Gebäude und für Grabstätten. Geomanten, ein noch heute in Korea aktueller Beruf, wissen von der Harmonie mit den Naturkräften, die sich an bestimmten Orten konzentriert. Sie suchen im Auftrage ihrer Klienten über Tage und Wochen nach geeigneten Grundstücken für Wohnhäuser. Klimagerechtes Wohnen, eine besondere Art traditioneller Fußbodenheizung, sanftes Licht durch die mit Papier bespannten Fenster und Türen und dekorative Gittermuster an allen Öffnungen und Durchbrüchen sind traditionelle Zeugnisse eines im Laufe der Jahrtausende entwickelten naturnahen Wohnstils. Dazu gehören die Gärten, kunstvoll gestaltete Naturräume mit Pavillons, Teichen mit Lotosblüten und Zierfischen, seltenen Felsen, idyllischen Steinmauern und Brücken. Der ideale koreanische Garten ist stets mit religiösen Vorstellungen vom Paradies verbunden und als Ausschnitt des Mikrokosmos gestaltet. Womit wir wieder beim Paradies wären. In der Tat bietet Korea, und dies ist in dem einleitenden Kapital „Die Koreaner und ihr Naturraum“ mit meisterhaften Fotografien dargestellt, paradiesische Landschaften, die durch sorgsam platzierte Tempelbauten oder Pagoden oder durch ein strohgedecktes Bauernhaus zusätzliche Glanzpunkte erhalten. Die weiteren Kapital des Buches sind der modernen Hauptstadt Seoul und vor allem der religiösen Kultur Koreas gewidmet. Die dominierende Religion ist der Buddhismus, der aber Elemente des chinesischen Konfuzianismus und Daoismus integriert, vor allem aber zahlreiche Elemente der schamanistischen Urreligion der in grauer Vorzeit aus Zentralasien in Korea eingewanderten Vorfahren bewahrt hat. Der Koreaner glaubt an ein Heer von Geistern in Wasser, Luft und Erde, in Haus Hof, Feld und Wald, die dem Menschen Übles wollen und daher beschwichtigt, überlistet oder unterworfen werden müssen. Bestimmte Rituale, Wächterfiguren und Totempfähle sind, vor allem im ländlichen Bereich, lebendige Zeugnisse dieser überlieferten Vorstellungen. Ein instruktives Buch über ein wenig bekanntes Land, ein Bilder- und Lesebuch, das sich aber auf das südliche Korea beschränkt. Am Ende steht der Wunsch der Koreaner nach Wiedervereinigung mit dem abgeschotteten kommunistischen Norden, nach einer Beendigung politischer und ideologischer Zweiteilung von Völkern, die heute als ein überholtes Relikt des 20. Jahrhunderts erscheint. (- mb -)

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