Die chinesische Mauer

Autor/en: Michel Jan, Roland und Sabrina Michaud
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2000
Seiten: 272
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: DM 148.–
ISBN: 3-85823-868-6
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
„Sie ist ein bewundernswertes Denkmal, das man verstehen möchte, Gürtel eines Kontinents, ein majestätisches, Wirklichkeit gewordenes Konzept, Schild der Welt, der schöne Traum eines Kaisers, Trugbild des Augenblicks, ein gnadenloser Drache aus Stein. Dies alles ist die große Mauer von zehntausend Li, dies ist Chinas Große Mauer“ – Das waren die Gedanken Gilbert de Voisins als er im Juli 1909 am Juyongguan (Paß von Juyong) den unter den Ming-Kaisern gebauten Teil der Großen Mauer entdeckte. Seither ist dieses unglaubliche Bauwerk, die faszinierendste je von Menschenhand geschaffene Verteidigungsanlage, diese weit über 2000 Kilometer lange Mauer, die sich von Jiayuguan, von der Grenze Tibets im äußersten Westen des chinesischen Reiches, durch Wüsten und Steppen, über Täler, Höhen und reißende Flüsse, bis zum Yalu-Fluß in Korea erstreckt, das vielleicht bekannteste Symbol für Macht und Stärke Chinas, Symbol aber auch für die Abschottung des Reichs der Mitte und seine Furcht vor den Barbaren im Norden. Doch die machtvolle Mingmauer aus Naturstein und Ziegel, in kurzen Abständen bewehrt mit Bastionen und Wachtürmen, unterbrochen von Festungsanlagen, die sich auf dem Kamm endloser Hügel- und Bergketten hinzieht und im Dunst der Ferne verliert, ist nur der Endpunkt einer Entwicklung, die zweitausend Jahre früher begonnen hat. Der Konflikt zwischen der Ackerbau treibenden, seßhaften Bevölkerung der chinesischen Hochkultur und den frei schweifenden nomadischen Hirtenkulturen der Steppen hat China seit den ersten Staatsgründungen bis zur letzten, der Qin-Dynastie, begleitet. Erste Mauern schützten die frühen Staaten Qi, Wei und Zhao und reichen bis in das 7. Jahrhundert v.Chr. zurück. Kaiser Qin Shao Huangdi, Erster Kaiser und Einiger des Reiches ließ dann in der unglaublich kurzen Bauzeit von nur 5 Jahren (214 bis 210 v.Chr) an der Nordgrenze seines Reiches eine Mauer von angeblich über 10000 li errichten, um sein Territorium vor den Einfällen der wilden Xiongnu zu schützen. Weitere bedeutende Mauern, mit ganz unterschiedlichem Verlauf, bauten die Herrscher der Han-Dynastien, der Wei-, der Liao-, der Jin- und schließlich der Ming-Dynastie. So gibt es nicht nur die Große Mauer der Ming, sondern entlang der Nord- und Westgrenzen von China ein ganzes System zahlreicher unterschiedlichster Wälle, Mauern, Bastionen und Befestigungsanlagen. Das vorliegende Buch gibt in Wort und Bild einen glänzenden Überblick über die komplexe geschichtliche Entwicklung des Mauerbaus und damit auch die staatliche Entwicklung Chinas. Die Idee einer exakt gezogenen und unveränderlichen Grenze ist Ausdruck der politischen und kulturellen Prinzipien der chinesischen Zivilisation. Das schließlich über die Jahrtausende entstandene Netzwerk von Mauern zeigt aber, daß sich ein solch starres Vorhaben niemals vollkommen verwirklichen kann. Ebenso unvollkommen war und ist der Schutz, den die Mauern tatsächlich gewährten. Die Geschichte hat gezeigt, daß sich die Barbaren, die kriegerischen Nomaden, zuletzt die Mongolen, nicht durch eine Mauer von der Welt der Chinesen ausschließen ließen, sondern daß sie ganz im Gegenteil eine belebende und befruchtende Wirkung für die Entwicklung Chinas hatten. So sind die Gründer der chinesischen Dynastien sehr oft gerade aus den Gebieten gekommen, die durch Mauern ausgegrenzt waren. Als kriegerische, ungebildete, vagabundierende Führernaturen haben sie begonnen, bestiegen den Kaiserthron, nahmen Kultur an, widmeten sich den Lehrer Konfuzius – und begannen schließlich ihrerseits, Mauern zu errichten. Die chinesische Mauer, die Grenze zwischen den Ländern der Ackerbauern und Viehzüchter, zwischen Ebenen und Hochland, zwischen Kulturraum und Steppe, ist damit auch ein Symbol für steten Wandel, für Fortschritt und für kulturellen und materiellen Austausch. Ideen und Religionen, materielle und ideelle Güter, Metallwaren und Seide, Porzellan und Pferde und vieles andere mehr erreichte und verließ China trotz der chinesischen Mauer. Dieser vielseitige Symbolgehalt der chinesischen Mauer findet Ausdruck in der Vielseitigkeit der Texte und Bilder. Wir sehen Bilder aus der Welt der Han-Chinesen alternierend mit Szenen aus der wilden, entbehrungsreichen Nomadenwelt der Kasachen, Mongolen und Kirgisen. Wir lesen Legenden, Berichte und Geschichten, die sich um die Mauer ranken und sehen Kunstwerke aus dem Reich der Mitte und aus der Steppe. Kalligraphie, Zeichnungen und Gedichte ergänzen die großartigen Aufnahmen, den inhaltreichen Text und den istruktiven Anhang. Ein sorgfältig und liebevoll gemachtes Buch. (- mb -)

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