Netsuke – Die Sammlung Trumpf

Autor/en: Patrizia Jirka-Schmitz
Verlag: Arnoldsche Verlagsanstalt
Erschienen: Stuttgart 2000
Seiten: Bd.I: 112 Meisterwerke, 288 Seiten, Bd.II: Vollständige Bestandskatalog, 416 Seiten
Ausgabe: Hardcover, beide Bände im Schmuckschuber
Preis: DM 248.–
ISBN: 3-925369-89-9
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Bis zur Einführung westlicher Kleidung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit auch der Hosentasche war dieses praktische Detail bei japanischer Kleidung unbekannt. Hose, Kimono, Jacke, alles von einem breiten Gürtel gehalten, oft aus prachtvollen Seidenstoffen, aber keine Taschen. Wohin also mit den Kleinigkeiten, die auch der japanische Mann unterwegs benötigt, wohin mit dem Geld, dem Tabak oder dem Siegel, wohin mit den Süßigkeiten oder den Pillen? Dieser Bedarf war die Geburtsstunde des Inro, eines kleinen Kästchens, oft mit mehreren Fächern, vorwiegend für den Bedarf an Medizin, aber nicht nur. Das Inro war mit einer Kordel versehen, die durch den Gürtel gezogen wurde, und am anderen Ende dieser Kordel gab es einen sichernden Knebel, das Netsuke. Inros waren zunächst den Samurai vorbehalten, wurden dann aber in der Edo-Zeit, etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Statussymbol wohlhabender Bürger und waren entsprechend kostbar gestaltet. Das in seiner Form kaum variierende Inro war vor allem eine Domäne aufwendigster Lacktechnik und wurde mit den vielfältigsten Themen und Motiven auf das Kunstvollste verziert. Eine gänzlich andere Entwicklung nahm das Netsuke am anderen Ende der Kordel. Anfänglich wohl meist nur Knebel oder kaum verziertes Holzstück, entwickelte sich dieser Gürtelknopf zur Spielwiese künstlerischer Kleinplastik, zum hochbegehrten Accessoire männlicher Kleidung mit einer unbegrenzten Vielfalt vollplastischer Darstellungen. Die durch keinen anderen Gebrauchszweck als die Knebelfunktion diktierte Größe ließ eine einzigartige, spezifisch japanische Kunstform entstehen. Es war die durch politische Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung, durch Blüte der Bürgertums und durch Luxus, Vergnügen und Förderung der Künste geprägte Edo-Zeit, der das Netsuke seinen Siegeszug in der japanischen Männermode verdankt. Modisch gekleidet zu sein war ein Muß und die Gürtelkunst hatte einen Stellenwert wie andernorts Schmuck. Die feinsten und kunstvollsten Arbeiten entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bevor 1853, nach der erzwungenen Öffnung Japans, westliche Kleidung und Gebräuche übernommen wurden. Die Schnitztradition kam damit aber nicht zum Erliegen. Netsuke entwickelten sich, vor allem im westlichen Ausland, zu begehrten Sammelobjekten, und es entstanden in den USA und in Europa große Sammlungen. Der Exportboom ließ die Schnitzkunst weiter florieren wenn sich auch der Stil unter dem europäischem Einfluß wandelte. Fin-de-siècle-Symbolik etwa bestimmt viele Netsuke aus der Meiji-Zeit. Eine der bedeutendsten europäischen Sammlungen ist die des Unternehmerehepaars Christian und Anna Trumpf, die in dem vorliegenden, zweibändigen Werk mustergültig publiziert ist. Die Sammlung wird im Linden Museum in Stuttgart verwahrt und mit einem kleinen, alten Museumbestand sind es 845 Netsuke, ein grandioser und umfassender Querschnitt durch die vielleicht liebenswerteste und japanischste aller Kunstgattungen. Am unfangreichsten vertreten – entsprechende der Vorliebe westlicher Sammler – sind Tiere, vom Schmetterling bis zum Elefant, von der Zikade bis zum Tiger, Krähen und Kraken, Löwen und zauberhafte Pferde. Fabeltiere wie Drachen und Kirins, leiten über zu Darstellungen aus dem Buddhismus, zu den daoistischen Unsterblichen, vor allem aber zu Netsukes mit Sujets aus dem japanischen Volksglauben, groteske, doch immer freundliche und liebenswerte Glücksgötter, Teufel und andere Ungeheuer. Reichlich vertreten ist die Unterhaltung: Schauspieler, Tänzer, Sänger, Geschichtenerzähler, Akrobaten und immer wieder Masken, ein Querschnitt durch die lebensfrohe Edo-Zeit, von der dann auch Motive aus dem Alltag berichten. Ein betrunkener Hofdiener, ein eingeschlafener Mönch, eine Tänzerin, die sich eines zudringlichen Kraken zu erwehren hat und ein Berufsnieser, im alten Japan ein einträglicher Bettlerberuf mit glücksbringender Bedeutung, bilden allesamt eine Enzyklopädie des japanischen Lebens, wie sie eindringlicher, amüsanter und liebenswerter kaum dargestellt werden kann. Ergänzt werden die Beschreibungen der Netsuke durch eine sachkundige Einführung von Patrizia Jirka-Schmitz, einer international anerkannten Expertin. Die Autorin führt uns durch die vielfältige Künstlerszene, stellt die wichtigsten Zentren und Werkstätten vor, beschreibt die Ikonographie und die Vielfalt der zum Einsatz kommenden Materialien und analysiert die Stilentwicklung dieser über 300-jährigen Schnitztradition. Ein fotografisches Verzeichnis mit knapp 350 Künstlersignaturen, Glossar, Bibliographie und umfangreicher Index runden die Publikation zu dem aktuellen Netsuke-Standardwerk in deutscher Sprache. Obwohl die beiden Bände auch einzeln erworben werden können, entfaltet sich die Schönheit und Vielfalt der kleinen Kunstwerke erst in der vollständigen Ausgabe. Im Bestandskatalog ist es der komplette Überblick über Motive, Stile und Materialien, während die 112 Meisterwerke in großartigen, oft vergrößerten Aufnahmen verständlich machen, daß Sammler für exquisite Stücke schon mal sechsstellige DM- oder $-Beträge locker machen müssen. (- mb -)

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