The Tarim Mummies – Ancient China and the Mystery of the Earliest People from the West

Autor/en: J.P.Mallory, Victor H.Mair
Verlag: Thames & Hudson
Erschienen: London 2000
Seiten: 352
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
ISBN: 0-500-05101-1
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Der einsame Jäger, der vor 5.300 Jahren im Eis der Ötztaler Alpen sein Leben verlor, war 1991 eine archäologische Sensation und hat das Wissen um das prähistorische Leben in Europa unendlich bereichert. Einige Jahre später waren es wieder archäologische Funde, die für Schlagzeilen in der Weltpresse sorgten. Im Wüstensand des westlichen China, so war zu lesen, hatte man die Mumien großer blonder, blauäugiger Nordeuropäer gefunden, die vor viertausend Jahren die Kultur nach China brachten. War also Chinas Zivilisation doch nicht aus sich selbst heraus entstanden? Gab es Kontakte Chinas mit dem Westen schon in prähistorischer Zeit? Waren das Rad und die Bronze etwa gar nicht Erfindungen Chinas? Thesen, die durchaus auch politischen Zündstoff enthielten, kennt man doch den Stolz Chinas auf seine uralte Kultur. Inzwischen ist es wieder ruhig geworden um diese wilden Spekulationen. Die Wissenschaft hatte sich des Themas angenommen und mit The Tarim Mummies liegt nun nach dem spannenden Buch von E.W.Barber (The Mummies of Ürümchi, New York 1999) die zweite gründliche Untersuchung über die besterhaltenen Mumien der Welt vor. Im Gegensatz zum „Ötzi“, der ein Einzelgänger war und blieb, barg und birgt das Tarim Becken viele Mumien und sie sind auch so „neu“ gar nicht. Schon Folke Bergman, Sven Hedin, Albert von LeCoq und Sir Aurel Stein hatten im trockenen Sand der zentralasiatischen Wüsten Mumien gesehen, doch fehlte damals noch das wissenschaftliche Rüstzeug für eine genauere Forschung, vielleicht auch einfach Fantasie und Bereitschaft, denn frühe Expeditionen lockte ganz andere Beute, wie sie heute in den Museen von London, Paris und Berlin zu bewundern ist. Die Autoren, J.P.Mallory, Archäologe und führende Kapazität für indo-europäische Forschungen, und Victor Mair, Initiator und treibende Kraft der derzeitigen Erforschung von Gräbern im Tarim-Becken geben einen umfassenden Bericht über den Stand der Forschung, über die Datierung der geheimnisvollen Mumien, über die Versuche, ihre Herkunft zu klären und ihre ethnische Identität zu bestimmen. Genetische Tests, Radiocarbon-Untersuchungen, geschichtliche und kunsthistorische Bestimmung von Artefakten, die Analyse der erstaunlich gut erhaltenen Textilien – einige der Mumien trugen karierte Stoffe, ähnlich den schottischen Quilts unserer Tage -, erlauben einen Blick in diese frühe Welt und lassen doch mehr Rätsel offen als gelöst werden. Am Ende stehen zwei Thesen: Waren es Indo-Iraner, die frühen Beherrscher der eurasischen Steppen, die nicht nur nach Mesopotamien und Indien sondern sogar in den fernen Westen Chinas vordrangen oder sind es die geheimnisvollsten aller Indo-Europäer, die Tocharier, die uns stumm und rätselhaft aus ihren Gräbern in der Taklamakan-Wüste entgegensehen? Bei aller Unsicherheit, die wohl immer bleiben wird, ist es ein glänzend und kompetent geschriebener Bericht über eine der aufregendsten und ungewöhnlichsten archäologischen Entdeckungen der jüngeren Zeit. Das Buch ist reich illustriert mit Karten, Übersichten, Fotos und Zeichnungen, es ist versehen mit Tabellen, Bibliographie und Index. Und es ist in der unnachahmlichen, lockeren und lebendigen Art geschrieben, wie ihn amerikanische Wissenschaftler besser als alle anderen beherrschen: wissenschaftlich exakt und spannend zugleich, gespickt mit Daten und Fakten aber auch mit Anekdoten und mit Geschichten, die sich um die Entdeckung und Ausgrabung dieser Mumien ranken. Eine etwas traurige und nachdenkliche Geschichte soll diesen Bericht beschließen: Die viertausend Jahre alten Mumien von Urumqi werden, nachdem sie ihre trockenen Gräber verlassen haben, nun nicht mehr sehr alt werden. Ihre neue Heimat in einem verstaubten Museum einer umweltbelasteten Millionenstadt im Westen Chinas ist für Mumien ausgesprochen ungesund. Luftfeuchtigkeit, Viren und Bakterien, Motten und Milben haben ihr Zerstörungswerk schon begonnen. An die von den Wissenschaftlern geforderten Klimakästen – der „Ötzi“ hat sie längst – ist wohl nicht zu denken. Wie gut, daß es wenigstens dieses interessante Buch gibt. (- mb -)

Print Friendly, PDF & Email