Early Carpets and Tapestries on the Eastern Silk Road

Autor/en: Gloria Gonick
Verlag: ACC Art Books
Erschienen: Woodbridge Suffolk 2015
Seiten: 172
Ausgabe: Hardback mit Schutzumschlag
Preis: € 40,00
ISBN: 978-1-85149-810-9
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2016

Besprechung:
Wenn Sturmflut und Pestilenz, Erdbeben und Feuersbrunst die Menschen heimsuchten, so galt es in alter Zeit die erzürnten Götter durch Gebete und Rituale zu besänftigen. So auch in der alten japanischen Hauptstadt Kyoto, wo sich aus solchen unvorhersehbar aber immer wieder eintretenden Szenarien um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend unserer Zeitrechnung ein jährlich regelmäßig inszeniertes Ritual als gewissenmaßen vorsorgliche Beschwichtigung des Pantheon einbürgerte. Es ist das Gion Matsuri, das Gion Festival, das seither mit nur gelegentlichen Unterbrechungen durch Kriegswirren jedes Jahr im Juli in großem Stil gefeiert wird. Die ursprünglichen Anlässe dieses bedeutendsten aller japanischen Festivals sind längst vergessen oder in den Hintergrund getreten; es hat heute weit mehr den Charakter eines Volksfestes mit dem vordergründigen Zweck von Spaß, Belustigung und Konsum. Doch der Höhepunkt des Festivals, die Parade der eindrucksvollen Festwagen am 17. Juli jedes Jahres ist historisch. 32 kleinere und größere, in einigen Exemplaren monumentale und aufwändigst dekorierte Festzugswagen, deren Kernsubstanz wohl auf das 15. Jahrhundert zurückgeht, werden von ebenso vielen Festivalgesellschaften auf eine drei Kilometer lange Parade geschickt. Die größten dieser Wagen wiegen bis zu 12 Tonnen, sind schon ohne die fantasievollen Schirme, Masten und Bekrönungen über 8 Meter hoch, haben mannshohe Holzräder und benötigen mehrere Dutzend starker Männer, um überhaupt bewegt zu werden. Und sie sind mit kostbaren Textilien dekoriert, die vor hunderten von Jahren nicht nur aus Japan, sondern auch aus China und Indien, aus Zentralasien, aus dem Mittleren Osten und sogar aus Europa in das ferne Inselreich gelangten und die als Dekor der Festzugswagen für wenige Stunden zu sehen sind, um dann wieder in den Schätzhäusern der Festgesellschaften zu verschwinden. Fast unbekannt und kaum dokumentiert ist eine mysteriöse Gruppe dieser Textilien. Es sind 21 geknüpfte Teppiche und 36 bemalte Flachgewebe völlig ungeklärter Provenienz; manche vermuteten, dass sie einst aus Korea kamen, andere sehen ihren Ursprung „irgendwo in China.“

Gloria Gonick, Kunsthistorikerin und Forschungsbeauftragte am Fowler Museum in Los Angeles hat über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten versucht, das Geheimnis um diese „Gion-Textilien“ zu enträtseln und präsentiert nun mit dem reich illustrierten Buch eine sorgfältig begründete Theorie für ihre Herkunft. Dabei waren die Ergebnisse der Radiocarbon-Tests mit einer Entstehungszeit im 14./15. Jahrhundert nur eine Bestätigung der bereits aus der Geschichte der Gion-Festivals resultierenden Vermutung und der eigentliche Anfang einer oft abenteuerlichen Recherche und eines außergewöhnlichen Wissenschafts-Puzzles. Eine genaue Untersuchung von Struktur und Material – allein diese schon ein Privileg, weiß man doch um die Unzugänglichkeit japanischer Schatzhäuser – ergab rasch, dass Korea als Herkunft auszuschließen war. Blieb also die sehr vage Vermutung „irgendwo in China“ und mit dieser nimmt uns Gloria Gonick mit auf ihre Entdeckungsreise durch japanische Klöster und Bibliotheken und in alle möglichen Regionen Chinas, in lokale Museen und deren Depots, um schließlich die Spuren dieser rätselhaften Textilien bei einer historischen und seit Jahrhunderten untergegangenen Kultur zu entdecken. Die von der Autorin zusammengetragenen Indizien verweisen auf eine Population von Uiguren, die um das 8. Jahrhundert ihre zentralasiatische Heimat verlassen und in der Region um Turfan machtvolle Kolonien mit städtischen Zentren und hoch entwickelter Literatur und Kunst gegründet haben. Sie waren manichäischen Glaubens und integrierten buddhistisches Gedankengut aus dem nahe liegenden, damals mächtigen Tibet und taoistische Traditionen von den Chinesen. Ihre wichtigsten späteren Siedlungsgebiete waren der Gelbe Fluß und seine Nebentäler. Und genau dort fanden sich deutliche Hinweise, übereinstimmende Motive, webtechnische Besonderheiten, Farben und vor allem Wollqualitäten, die mit den flachgewebten und mit Tusche bemalten bzw. konturierten Giontextilien so viel Gemeinsames haben, dass deren uigurische Herkunft durchaus wahrscheinlich ist. Ganz ähnliche, flachgewebte und ebenfalls mit Tusche bemalte und konturierte Textilien, oft mit einer Gruppe fliegender Kraniche, sind von dort und angrenzenden Regionen auch aus späterer Zeit bekannt. Das alles ist sorgfältig recherchiert und erscheint plausibel, beschränkt sich aber auf die Flachgewebe, während die Teppiche leider nur sehr pauschal behandelt werden. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Forschungsarbeit der Autorin, die eine uigurische Kultur behandelt, von chinesischer Seite als nicht mit der gegenwärtigen politischen Richtung übereinstimmend und daher als unerwünscht beurteilt wird.

Die hier nur skizzenhaft aufgezeigte Suche nach den Ursprüngen rätselhafter Artefakte ist in dem Buch mit detaillierten Informationen über frühe Gesellschaften, über ihre kulturelle Identität und über historische Zusammenhänge verbunden. Die Arbeit von Gloria Gonick ist damit ein Lehrstück dafür, was in Textilien verborgen ist und was sie erzählen können wenn man nur in ihnen zu lesen versteht, was mitunter allerdings ein mühseliges Unterfangen, fast eine Lebensaufgabe sein kann.

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