Der Dionysosbehang der Abegg-Stiftung

Autor/en: Dietrich Willers, Bettina Niekamp
Verlag: Abegg-Stiftung, Riggisberger Berichte, Band 20
Erschienen: Riggisberg bei Bern 2015
Seiten: 270
Ausgabe: Softcover
Preis: CHF 85,00
ISBN: 978-3-905014-53-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2017

Besprechung:
Nachdem Oktavian, der Jahre später als Augustus der erste römische Kaiser war, im Jahre 31 v.Chr. in der Seeschlacht von Actium die Flotten von Kleopatra und Marc Anton besiegt hatte, war der Untergang des ptolomäischen Reiches in Ägypten nur noch eine Frage der Zeit. Ein Jahr später eroberten römische Truppen die Hauptstadt Alexandria und Oktavian annektierte Ägypten als römische Provinz. Wegen seines großen Reichtums, der Denkmäler einer geheimnisvollen alten Kultur, vor allem aber als Kornkammer Roms nahm das von kaiserlichen Präfekten regierte Ägypten unter den römischen Provinzen über Jahrhunderte eine Sonderstellung ein. Der nährstoffreiche Schlamm des regelmäßig über die Ufer tretenden Nil garantierte satte Ernten in einem sonst fast regenlosen, von Wüste geprägten Land. Es ist dieses Nebeneinander von dem aus der Fruchtbarkeit geborenen Reichtum einerseits und knochentrockener Wüste andererseits, das Ägypten heute eine Sonderstellung in der Geschichtswissenschaft verleiht. Wie fast nirgendwo sonst hat sich im trockenen Sand der Wüste organisches Material über Jahrhunderte und Jahrtausende erhalten. Korbwaren, Leder, ja sogar Lebensmittel geben Zeugnis vom täglichen Leben längst vergangener Zeiten. Vor allem aber sind es die im Wüstensand erhaltenen Papyri, die Literatur und Poesie überliefern aber auch über Profanes aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft informieren. Und es sind die Tausende und Abertausende textiler Fragmente, die seit über einhundert Jahren gefunden und gesammelt werden. Sie ermöglichen den Einblick in einen der wichtigsten Bereiche der materiellen Kultur, die Verwendung von Textilien zum Gebrauch, zur Dekoration und vor allem für die Kleidung. Wie wichtig, wie schwierig und wie erhellend es ist, aus Textilfragmenten auf deren einstige Funktion zu schließen, hat Sabine Schrenk in dem 2004 erschienenen Bestandskatalog der Abegg-Stiftung „Textilien der Mittelmeerraumes aus spätantiker bis frühislamischer Zeit“ bewundernswert dargelegt. Schon damals war der monumentale Dionysosbehang eines der herausragenden Objekte der über 200 behandelten Textilien.

Dieser Dionysosbehang, die gewiss größte und bedeutendste Bildwirkerei, die aus der Spätantike noch erhalten ist, wird nun in einer umfassenden monographischen Arbeit gewürdigt. Dietrich Willers, lange Jahre Inhaber des Lehrstuhls für Klassische Archäologie an der Universität Bern widmet sich schwerpunktmäßig der Analyse und Deutung des Bildgehalts. Seine ungemein kenntnisreiche Melange aus Archäologie und Kunstgeschichte, die vielfachen Vergleiche und Bezugnahmen auf Wandmalereien aus Pompeji und Herculaneum, auf römische Mosaiken und auf Reliefdarstellungen in der Architektur und auf Sarkophagen, vor allem aber die Deutung des Behangs aus der spätantiken, kulturellen, kultischen und religiösen Situation, ist beeindruckend und überzeugend. Dionysos, einer der ältesten und vielleicht der am häufigsten bildlich dargestellte aller Götter des griechischen und römischen Pantheon, steht natürlich ganz im Mittelpunkt. Als Herr des Theaters im klassischen Athen, Adept ritueller Ekstase und wichtige Mysteriengottheit geht seine Bedeutung weit über das gängige Klischee von „Wein, Weib und Gesang“ hinaus, auch wenn seine der spätantiken Praxis entsprechende Darstellung als jugendlicher, unbekleideter Gott diese vielfache Funktion kaum erahnen lässt. Ebenfalls nackt ist seine Begleiterin Ariadne, die längst als die unsterblich gewordene Geliebte zu seiner Sphäre und Bilderwelt hinzu gehört, ebenso wie Pan, Satyr und Mänade. Weit schwerer zu deuten sind die weiteren drei Personen seines Gefolges. Die vom Autor angebotenen Lösungen des alten Mannes mit Geissel als Erzieher des Dionysos, der Dame mit nacktem Bein und entblößter Brust als seiner Amme und der reich gekleideten Sterblichen als einer Initiantin des Mysterienkultes, sind wohl begründet und nachvollziehbar.

Nach diesem archäologisch-kunsthistorischem Feuerwerk sind die Untersuchungen von Bettina Niekamp, der leitenden Textilkonservatorin und Restauratorin der Abegg-Stiftung über die Restaurierungsgeschichte des Behangs und über Technik und Material sowie zum Herstellungsablauf vom Entwurf über die Wirkvorlage bis zur Ausführung eher nüchtern aber für den an textiler Technik Interessierten von größtem Gewinn. Wenn man weiß, dass der in seiner heutigen Rekonstruktion und Präsentation 7 x 2.2 Meter messende Behang 1986 aus dem Kunsthandel ohne jegliche Information über den Fundzusammenhang in unzähligen und vielen größeren Fragmenten erworben wurde, kann man nur bewundern, mit welcher Akribie, Kenntnis und Sorgfalt dieses beeindruckende textile Kunstwerk aus spätantiker Zeit wieder erstanden ist. Während von einer Zweitverwendung als Grabbeigabe mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann, bleiben Erstverwendung und Herstellungsort im Dunkel. Eine Nutzung als Wandbehang im Bankettraum einer großzügigen privaten Villa ist ebenso denkbar wie eine solche als kostbarer Wandschmuck eines kultisch genutzten Raumes. Eine Herstellung in Ägypten, hier vielleicht im alten Panopolis, ist ebenso möglich wie auch ein Import aus einer römischen Manufaktur, etwa durch einen kaiserlichen Präfekten.

Die zusammen mit den Fragmenten des Behangs und offenbar aus demselben Fundzusammenhang stammenden Reste einer seidenen, mit beschrifteten Motiven des Marienlebens verzierten, um etwa 400 n. Chr. datierbaren Tunika, sind schließlich ein seltenes und beeindruckendes Zeugnis der Spätantike als eines Zeitalters des Übergangs der Antike zum frühen Mittelalter, als vorchristliche Kulte und Traditionen dem mit Macht vordringenden Christentums wichen. Es war keineswegs, wie vielfach kolportiert wird, eine Zeit der Dekadenz und des Verfalls, sondern eine Epoche großer Vitalität und der Transformation der antiken römischen in eine andere Welt. Der Dionysosbehang kann damit auch als ein einzigartiges Symbol für die kulturellen und religiösen Veränderungen jener Zeit interpretiert werden.

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