Anonymous – Contemporary Tibetan Art

Autor/en: Rachel Perera Weingeist, David Elliot
Verlag: ArtAsiaPacific – The Samuel Dorsky Museum of Art
Erschienen: Hong Kong – New Paltz – 2013
Seiten: 176
Ausgabe: Hardcover
Preis: USD 38,00
ISBN: 978-0-9845625-7-2
Kommentar: Michael Buddeberg, November 2013

Besprechung:
Nicht nur im Wirtschaftswachstum und bei der Umweltverschmutzung ist China weltweit führend, auch der chinesische Kunstmarkt boomt seit einem Jahrzehnt und hat ab 2011 sogar die USA von ihrem traditionellen Spitzenplatz verdrängt. Und es sind nicht nur chinesische Bronzen aus den alten Dynastien oder kaiserliche Porzellanvasen, die aus westlichen Sammlungen den Weg zurück ins Reich der Mitte finden, auch die ältere Moderne Chinas (bis ca. 1960) und die zeitgenössische chinesische Kunst schlägt auf Auktionen in West und Ost alle Rekorde. Das Bild „Greifvogel auf einem Kiefernast“ von Qi Baishi (1864-1957), das im Mai 2011 in einer Auktion in Beijing einen Preis von fast 47 Millionen Euro erzielte, ist hier ein Beispiel für viele. Ob ein solcher Preis allein den Phänomenen Spekulation und Investition, die auch den westlichen Kunstmarkt zu dominieren scheinen, geschuldet ist oder dem wirklichen Kunstwert des Objektes, sei hier dahingestellt. Eine Ausstellung unter dem Titel „Anomymous – Contemporary Tibetan Art“ wirft eine ganz andere Frage auf. Selbstverständlich hat Qi Baishi sein Bild, das er für den 60sten Geburtstag von Chiang Kai-shek, also im Jahre 1947 gemalt und mit kalligraphierten Wünschen für ein langes Leben und eine friedliche Welt versehen hat, einer jahrhunderte alten chinesischen Übung folgend, mit seinem Namen und Siegel signiert. Zur gleichen Zeit haben tibetische Maler – und auch sie folgten hier einer seit jeher bestehenden Tradition – ihre Wandmalereien und Thangkas allein im Dienste der Religion und in Erfüllung überlieferter ikonographischer Vorgaben gemalt und nicht signiert. Tibetische Kunst war, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, stets anonym. Und noch mehr: Der Dienst an der Religion, die Funktion des Werks als Hilfe auf dem Weg zur Erleuchtung und der Erweb von Verdienst von Maler und Auftraggeber standen so im Vordergrund, dass es den Begriff „tibetische Kunst“ – eine Wortschöpfung des Westens – streng genommen nicht gab. Das hat sich dramatisch geändert. Neben der seit dem Ende der Kulturrevolution erneut etablierten, anerkannten und sogar von chinesischen Kunsthochschulen gelehrten traditionellen Wand- und Thangkamalerei für religiöse Zwecke ist eine Szene zeitgenössischer tibetischer Künstler entstanden. Ihre Protagonisten leben in Tibets Hauptstadt Lhasa aber auch in Zürich, Oakland, New York City, Indien und im australischen Outback. Shelley und Donald Rubin, die Gründer des seit 2004 bestehenden Rubin Museum in New York sammeln und unterstützen diese junge tibetische Kunst und haben mit dem Projekt „Anomymous“ die Zusammenhänge dieser zeitgenössischen tibetischen Kunst mit dem traditionell anonymen Kunstschaffen Tibets hinterfragt. Das Ergebnis ist faszinierend und in der Ausstellung im Samuel Dorsky Museum of Art in New Paltz – das ist ein kleiner Ort im idyllischen Tal des Hudson River, auf halbem Weg zwischen New York nach Albany, an der Interstate 87 gelegen – zu sehen und in dem dazu erschienenen Katalog vorgestellt und ausgewertet. 27 Künstler aus Lhasa und aus der tibetischen Diaspora präsentieren 50 Werke, wobei Malerei und Skulptur ebenso vertreten sind wie Fotografie, Video und Installationen. Die weitaus meisten der Künstler haben sich in Abkehr von der tibetischen Tradition nicht für die anonyme Präsentation entschieden, sondern stehen mit Namen und Signatur zu ihrem Werk und dessen Inhalt und Aussage. Sie folgen damit dem internationalem mainstream des Kunstbetriebes, wonach das individuelle Werk eines namentlich benannten Künstlers die Basis für Produktion, Interpretation und Konsum von Kunst ist. Die traditionelle Anonymität in Tibet erscheint für einen zeitgenössischen Künstler, sei es in Tibet oder irgendwo anders in dieser globalen Welt, als Anachronismus. Mit der besonderen Situation von Tibet als zwangsweise von China besetzt und unterdrückt hat das nichts zu tun. Es ist eine Folge der Globalisierung der Welt, auch der Kunst dieser Welt, die Tibet unabhängig von der gewaltsamen Okkupation durch China ebenso erreicht hat wie jedes andere Volk und jede andere Region dieses Planeten. Etwas ganz anderes ist es mit den Inhalten der zeitgenössischen tibetischen Kunst. Ob anonym oder signiert, ob aus Lhasa oder von irgendwo sonst, fast immer werden Inhalte aus der besonderen gesellschaftlichen oder politischen Situation Tibets thematisiert. Ob das die durch eine Eisenbahnbrücke ergänzte tibetische Landschaft ist (anonymes Video), die subtile Kritik an der Willkür chinesischer Behörden bei der Passvergabe an Tibeter (Benchung) oder ein an der traditionellen Darstellung orientierter Mahakala mit Gasmaske (Gade), ein Protest gegen chinesische Dominanz und Beherrschung oder jedenfalls eine Auseinandersetzung mit spezifisch tibetisch-chinesischen Problemen und Befindlichkeiten klingt fast überall an. Die von der Kuratorin Rachel Perera Weingeist an den Anfang ihres Essays gestellte Frage, ob die zeitgenössischen Künstler Tibets eine visuelle Sprache entwickelt haben, die die Tradition Tibets in die moderne Welt von heute transportiert, ist im Ergebnis zu verneinen. Anonymität im Interesse spiritueller Funktion und Signatur als persönliche Stellungnahme scheinen einander auszuschließen. Ausstellung (bis zum 15. Dezember 2013) und Katalog sind ein wertvoller Beitrag zur international kaum wahrgenommenen zeitgenössischen Kunst Tibets.

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