Nomadische Resourcennutzung und Existenzsicherung im Umbruch – Die osttibetische Region Yushu

Autor/en: Andreas Gruschke
Verlag: Dr. Ludwig Reichert Verlag
Erschienen: Wiesbaden 2012
Seiten: 444
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 88,00
ISBN: 978-3-89500-643-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2013

Besprechung:
Als 1950 Maos Truppen in Tibet einmarschierten um das Land von der Feudalherrschaft buddhistischer Klöster und adeliger Landbesitzer, vor allem aber vom westlichen Imperialismus – der zum damaligen Zeitpunkt aus Heinrich Harrer, Peter Aufschnaiter und dem britischen Funker Robert Ford bestand – zu befreien, gab es auch im tibetischen Hochland keinen Ort, der von den einsetzenden politischen Umwälzungen verschont geblieben wäre. Im Verlauf der fünfziger Jahre wurde die bäuerliche und nomadische Gesellschaft in Volkskommunen überführt, Landbesitz abgeschafft, Yaks, Schafe und Ziegen neu verteilt. Die Kulturrevolution der sechziger Jahre tat ein Übriges, um alles Alte und Bewährte, Tradition und Brauchtum abzuschaffen oder zu zerstören. Die Folgen waren katastrophal, die an der Selbstversorgung des Landes orientierte Wirtschaft brach zusammen, der Tierbestand, der die Lebensgrundlage der Nomaden ist, ging dramatisch zurück, Armut und Hunger, im alten Tibet weitgehend unbekannt, wurden zum Problem. Erst Ende der siebziger Jahre war der Spuk vorbei, die Viererbande gestürzt und auch die verantwortlichen Funktionäre sahen ein, dass in dem von Nomaden bewirtschafteten, lebensfeindlichen Hochland von Tibet allein die traditionelle, mobile Weidewirtschaft Überlebenschancen hat. Die ersten Touristen der frühen achtziger Jahre berichteten denn auch, dass das frühere System der nomadischen Bewirtschaftung der kargen Weiden wieder aufgenommen worden war, dass erfahrene Nomaden ihre Tierherden wieder mehrten, dass traditionelles Brauchtum und archaische Lebensweise sich wieder dem Bild genähert hatten, das man sich vom Nomadentum machte. Die Welt schien wieder in Ordnung zu sein. War sie das aber wirklich? War eine Rückkehr in die alte Welt überhaupt möglich? Sie war es nicht, wie sich zeigte. Die Weiden wurden weniger und schlechter, Strassenbau, Pisten und Fahrwege reduzierten und beschädigten die empfindliche und ohnehin spärliche Vegetation, Jagd und Wilderei dezimierten Wolf und Fuchs, die natürlichen Feinde kleiner Nager, die heute zu Millionen das Weideland unterhöhlen und damit Austrocknung und Erosion fördern. Der globale Klimawandel schließlich macht auch vor dem tibetischen Hochland nicht Halt, der für ein ökologisches Gleichgewicht sorgende Permafrostboden taut mehr und mehr auf und winterliche Schneekatastrophen, die den Tierbestand großer Gebiete drastisch reduzieren, oft sogar ganz vernichten, häufen sich. Und nicht zuletzt hat die Bevölkerung dank besserer medizinischer Versorgung und deutlicher Reduzierung der Kindersterblichkeit stark zugenommen. Das Minimum an Tieren, seien es Yaks, Schafe oder Ziegen, das für jedes Mitglied einer Nomadenfamilie notwendig ist, um die Existenz zu sichern, ist oft nicht mehr vorhanden. Hinzu kommen der wirtschaftliche Aufschwung des modernen China, der demographische Wandel und die Globalisierung und mit ihnen ökonomische und soziale Veränderungen und Konsumzwänge. Über all dies ist in der umfangreichen Tibet-Literatur fast nie zu lesen, es überwiegt vielmehr noch immer eine idealisierte, mit nostalgischen Bildern versehene Vorstellung vom freien Nomadenleben. Mit Andreas Gruschkes tief greifender wissenschaftlicher Untersuchung über die nomadische Ressourcennutzung in der osttibetischen Region Yushu ist dieser Mangel, jedenfalls regional behoben. Das Buch ist das Ergebnis eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes mit mehrjähriger empirischer Feldarbeit zur aktuellen Gesellschaft und Lebenswelt der Nomaden. Hauptteil der Untersuchung, die im Jahre 2009 der Universität Leipzig als Dissertation vorgelegt wurde, ist die systematische Befragung repräsentativ ausgewählter Personen aus allen in der Region Yushu in Ost-Tibet anzutreffenden Siedlungsformen, vom klassischen Nomadenland bis zum städtischen Bereich. Auch wenn sich das zu dem Sonderforschungsbereich „Nomaden und Sesshafte – Differenz und Integration“ der DFG erschienene Buch in erster Linie an Soziologen, Anthropologen und Fachleute ähnlicher Fachrichtungen wendet, so ist es doch auch für jeden an der tibetischen Wirklichkeit interessierten Leser von hohem Interesse und darüber hinaus spannend zu lesen. Durch die vielen, im Original-Wortlaut wiedergegebenen Kommentare von tibetischen Nomaden wird das Schicksal, das Tibet im vergangenen halben Jahrhundert erleiden musste, in einzigartiger Weise anschaulich und lebendig. Umerziehung und Enteignung, die Gräueltaten fanatisierter roter Garden während der Kulturrevolution, Verarmung, Not und Krankheit, der Verlust von Tieren durch wochenlang anhaltende Schneefälle, können durch die wenigen Verbesserungen und Annehmlichkeiten, die moderne Zeiten gebracht haben, kaum kompensiert werden. So weit, so schlecht, könnte man sagen. Es ist ein eher düsteres Bild von der Gegenwart und Zukunft des tibetischen Nomadismus, das hier gezeichnet wird. Wäre da nicht eine weitere Ressource, die zwar seit Jahrhunderten bekannt und geschätzt ist, die aber im zurückliegenden Jahrzehnt einen ökonomischen Höhenflug erlebt hat, für die es kein Beispiel gibt: Es ist der Raupenpilz, cordyceps sinensis, ein eigenartiges Naturprodukt, dessen Name sich von der Metamorphose einer von Pilzsporen befallenen Mottenlarve in einen Pilzkörper ableitet, der im Frühsommer einen Sporenkörper austreibt. Diese metaphorische Beschaffenheit zwischen Tier und Pflanze hat den Raupenpilz schon immer als ein besonderes, fast heiliges, jedenfalls mit mancherlei Heilkräften behaftetes Ansehen verliehen. Das wirtschaftliche Wachstum Chinas, die neue wohlhabende und reiche Oberschicht, hat die Nachfrage nach dieser Droge in ungeahnte Höhen getrieben. Der aktuelle Preis für das Kilogramm Raupenpilz in Shanghai liegt zur Zeit bei 40.000 Euro und übertrifft damit bereits den Goldpreis. Für Tibeter in der Region Yushu – und das gilt auch für viele andere Regionen – ist der Raupenpilz zur wichtigsten Einnahmequelle geworden. Es erscheint mittlerweile fast angebracht, nicht mehr von Nomaden, sondern von Raupenpilz-Sammlern mit oder ohne Tierhaltung zu sprechen. Eine Vernachlässigung der Tiere, der Rückgang der Selbstversorgung und eine stärkere Abhängigkeit von der Geldwirtschaft, Auseinandersetzungen über den Zugang zu den Fundgebieten, sind die eine Seite, neuer Reichtum und der Zugang zu früher unerreichbaren Konsumartikeln und die Teilhabe an einem moderneren Leben sind die andere Seite. Über allem steht die Frage: Der Raupenpilz: Fluch oder Segen, Chance oder Risiko? Diese Frage kann auch Andreas Gruschke letztlich nicht beantworten; seine Untersuchung über die Nutzung vorhandener Ressourcen in einer Zeit des Umbruchs aber ist eine hochprofessionelle, ernsthafte Untersuchung zum Überleben einer traditionellen nomadischen Gesellschaft in modernen Zeiten – das etwas andere Tibetbuch.

Print Friendly, PDF & Email