The Museum on the Roof of the World – Art, Politics, and the Representation of Tibet

Autor/en: Clare E. Harris
Verlag: The University of Chicago Press
Erschienen: Chicago und London 2012
Seiten: 314
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: USD 45,00
ISBN: 978-0-226-31747-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Mai 2013

Besprechung:
Im Schutz der hereinbrechenden Nacht verließ der als einfacher tibetischer Soldat verkleidete Dalai Lama am 17. März 1959 seinen Sommerpalast, der kurz darauf von chinesischer Artillerie in Schutt und Asche gelegt wurde. Die Flucht über den Himalaya hat ihm wohl sein Leben, jedenfalls aber die Freiheit im indischen Exil Dharamsala gerettet. Genau 50 Jahre später, zwischen Februar und April 2009 veranstaltete die chinesische Regierung im Kulturpalast von Beijing eine Ausstellung zum 50-jährigen Jubiläum der Demokratischen Reformen in Tibet. Photomontagen und Dioramen zeigten, wie Tibet dank chinesischer Hilfe aus der Dunkelheit des Mittelalters, aus Armut und Diktatur erlöst und zu Wohlstand und Demokratie gekommen war. Ebenfalls 2009 war der 1961 in Lhasa geborene Gonkar Gyatso als erster zeitgenössischer tibetischer Künstler auf der 53. Biennale in Venedig vertreten. Seine großformatige Arbeit „Reclining Buddha: Beijing-Tibet Relationship Index“ orientierte sich an horizontal zu lesenden, narrativen chinesischen Bildrollen, zeigte kleine Szenen aus der jüngsten tibetischen Geschichte und, gewissermaßen als Hauptmotiv, eine die Entwicklung der chinesisch-tibetischen Beziehungen darstellende, das Werk von links nach rechts durchlaufende Fieberkurve. Der im Frühjahr 2008 von China gewaltsam niedergeschlagene Aufstand im Vorfeld der Olympischen Spiele in Beijing markiert in Gonkar Gyatsos Bild den absoluten Tiefpunkt dieser Beziehungen. Mit diesem denkbar größten Gegensatz in der Wahrnehmung Tibets aus dem Jahre 2009 endet ein Buch, das sich mit eben dieser Wahrnehmung Tibets, seiner Kunst und seiner politischen Verhältnisse seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts befasst. Die Autorin Clare Harris, Anthropologin und Kuratorin an der Universität und dem Pitt Rivers Museum in Oxford, vertritt die These, dass der aktuelle chinesische Prozess, Tibet in ein Museum zu verwandeln, bereits im 19. Jahrhundert im Westen, vornehmlich in Großbritannien begonnen hat, dass also Tibet stets und in erster Linie in seiner musealen Präsentation wahrgenommen wurde. Begonnen hat dies 1854 mit einer ersten Präsentation Tibets im Londoner Crystal Palace. Es war eine Art Diorama von Tibetern, Ethnographie im Stil des 19. Jahrhunderts, versehen einem gehörigen Schuss Exotik. In der Zeit danach wurde dieses Bild noch verstärkt durch frühe Aufnahmen, die britische Fotografen von Tibetern in den erholsamen Randlagen der Himalaya-„hill stations“ anfertigten und die das Bild von Tibet als einem Land der Dämonenverehrung und bizarrer Rituale festigten – von Kunst war damals nicht die Rede. Mittlerweise hatte das Great Game begonnen, durch das Tibet auch als politische Größe und strategische Region in der Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien in den Fokus geraten war. Indische Scouts, die so genannten Pandits, vermaßen das Land und brachten erste Fotos. Vor allem aber verschaffte die vermeintliche politische Notwendigkeit den Briten den Vorwand zu einem militärischen Vorgehen gegen Tibet. Die von Francis Younghusband 1904 geleitete Invasion wird zwar bis heute beschönigend als „Mission“ oder „Expedition“ bezeichnet, war aber nichts anderes als ein gewaltsamer, mit überlegenen Waffen und Mannschaften geführter Angriffskrieg gegen eine hoffnungslos schwache Minderheit. Die Wahrheit über die Younghusband Mission, die planmäßige Plünderung von Klöstern, Tempeln und Palästen bis hin zur Fledderung gefallener Lamas und die Rückkehr britischer Offiziere und Soldaten, beladen mit Raubgut aus Tibet, ist einer der zentralen Teile des Buches. Clare Harris verwertete vor allem bisher unpublizierte Briefe und Aufzeichnungen britischer Offiziere und Soldaten, ebenso wie die Schriften des schillernden Lawrence Waddell, der der Younghusband Expedition als eine Art kultureller Attaché beigeordnet war. Nach seinen Worten war Tibet eine Schatztruhe, die darauf wartete, geplündert zu werden. Sehr überraschend ist diese neue Sicht auf das britische Abenteuer in Tibet freilich nicht, denn es unterschied sich, von dem militärischen Hintergrund abgesehen, nicht wesentlich von dem was Sir Aurel Stein, Paul Pelliot oder Albert von LeCoq zur gleichen Zeit in Zentralasien unternahmen. Es war jedenfalls die Geburtsstunde des Begriffs Tibetische Kunst. Eine ungeheure Zahl an Statuen, Thangkas und Ritualgegenständen, zuvor allein dazu bestimmt, gläubigen Buddhisten den Weg zu spirituellen Zielen zu erleichtern, schmückten nun britische Wohnräume, Sammlungen und Museen. Tibet selbst blieb, was es war, unzugänglich, verschlossen, ein Mysterium, dem nur durch gelegentliche fotografische Dokumentationen – John Claude White und Charles Bell wären hier zu nennen – und durch seine Kunst näher zu kommen war. Es mussten dann erst der chinesische Einmarsch in Tibet, das Massaker vom März 1959 und die nachfolgende Kulturevolution geschehen, dass von 1959 bis 1976 erneut gewaltige Mengen von Kunstwerken Tibet verließen und nach und nach über den östlichen und westlichen Kunstmarkt in Sammlungen und Museen gelangten. Tibets tragbares kulturelles Erbe – so die freilich etwas pauschale Behauptung der Autorin – ist heute überall, nur nicht in Tibet. Überall aber heißt getreu der These des Buches: in Museen und in Ausstellungen, in Ost und West und, je nach der mit der Präsentation verfolgten Absicht zum Zwecke der Erziehung und Information oder zur Propaganda. Unter dieser Prämisse diskutiert Clare Harris so gegensätzliche Museen wie etwa das indische Tibet Museum in Mc.Leod Ganj und, auf der anderen Seite der Grenze, das im Oktober 1999 eröffnete Tibet Museum in Lhasa. Jedes für sich, stellt die Autorin fest, vermittelt alles andere als die Wirklichkeit. Gleiches gilt für Ausstellungen, etwa die umstrittene chinesisch-amerikanische Wanderschau „Tibet – Treasures from the Roof of the World“ oder den weltweit gezeigten Blockbuster „Wisdom and Compassion – The Sacred Art of Tibet“, der zwar in seiner buddhistisch-kunsthistorischen Tendenz und in der Person seiner Kuratoren über jeden propagandistischen Zweifel erhaben war, sich aber dennoch in großem Umfang auf Objekte stützte, die Tibet nach 1950 und unfreiwillig verlassen haben. Das „Museum Tibet“ ist eine These, die unterdessen durch die Wirklichkeit eingeholt wird; Die heilige Stadt Lhasa wird mehr und mehr in ein Museum verwandelt, in der tibetisches Brauchtum bis hin zur Religionsausübung nur noch in staatlich genehmigtem Umfang geduldet und materielle Kultur als Relikt einer fernen Vergangenheit präsentiert wird. Für Clare Harris sind es vielleicht allein die zeitgenössischen tibetischen Künstler, die wie Gongkar Gyatso eine lebendige tibetische Kultur repräsentieren. Ein Buch, das mit einer Fülle von Informationen und mit nie zuvor publizierten Bildern zum Nachdenken und zum Diskutieren anregt, mag man der These der Autorin nun folgen oder nicht.

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