Netsuke im Vergleich – Motive und ihre Variationen

Netsuke im Vergleich – Motive und ihre Variationen

Autor/en:        Florian Langegger

Verlag:           Arnoldsche Art Publishers

Erschienen:    Stuttgart 2018

Seiten:            224

Buchart:         Hardcover

Preis:              € 48,00

ISBN:             978-3-89790-528-3

Hinweis:         Das Buch ist zweisprachig: deutsch und englisch.

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Besprechung:

Welch ein Glücksfall, dass die prominente jüdische Bankiersfamilie Ephrussi eine Sammlung japanischer Netsuke besaß. So konnte eine treue Kammerzofe die bedeutende Sammlung von 264 Netsuke vor den Schergen der Nazis bequem in ihrer Matratze verstecken und so einen Teil des Familienvermögens für die Nachkommen retten. Edmund de Waal, ein Nachkomme der Ephrussi, hat vor Jahren unter dem Titel „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ einen gefeierten Bestseller über die Geschichte dieser Sammlung japanischer Kleinkunst geschrieben. Die wohlhabenden Bürger der japanischen Edo-Periode, die prachtvoll in Seide und Stickerei gewandet aber ohne praktische Hosentaschen ihre notwendigen Utensilien, wie Münzen, Tabak, Siegel und Medizin in kleinen Behältnissen, dem Inro, mit sich führten, welcher mit einer Kordel durch den breiten Gürtel gesteckt und, am anderen Ende der Kordel, mit einem Knebel vor dem Verlieren geschützt war, hätten sich wohl kaum vorstellen können, dass dieser kleine, Netsuke genannte Knebel Jahrhunderte später nicht nur zum beliebten Objekt westlicher Sammelleidenschaft avancieren, sondern sogar literarischen Ruhm auf sich laden würde. Zunächst nur den Samurai vorbehalten entwickelten sich diese kleinen praktischen Kleidungsaccessoires seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Statussymbol wohlhabender Japaner und wurden mehr und mehr zu einer Spielwiese künstlerischer Kleinplastik.

Deutsche Literatur zu diesem Sammelgebiet ist rar und so füllt eine Publikation des Schweizer Sammlers Florian Langegger eine Lücke und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es werden nicht nur einhundert sorgfältig und repräsentativ ausgewählte Stücke der Sammlung vorgestellt und beschrieben, sondern jedem einzelnen Netsuke werden bis zu 10 Vergleichsstücke aus anderen Sammlungen und aus internationalen Auktionen gegenübergestellt. Der Vergleich mit anderen Netsukes zum identischen Thema, geschnitzt von verschiedenen Künstlern zu verschiedenen Zeiten, offenbart Unterschiede und hilft, stilistische Besonderheiten und Details zu erkennen. Er schärft so das Urteil und das Gefühl für Qualität und künstlerische Leistung. Da zu den auf Auktionen angebotenen Vergleichsstücken oft auch die Schätzpreise, gelegentlich auch die Hammerpreise genannt werden, ist das Buch auch ein – wenn auch mit großer Vorsicht zu nutzender – Ratgeber bei dem schwierigen Thema der Bewertung dieser kleinen Kunstwerke, die im Kunstmarkt und auf Auktionen immer wieder für sensationelle Preisrekorde sorgen.

Netsuke eignen sich wie kaum andere Sammlungsobjekte zu solch vergleichenden Gegenüberstellungen. Obwohl das Spektrum der Darstellungen weit gespannt ist, von den vielen Göttern des japanisch-buddhistischen Pantheon, Heiligen und weniger Heiligen bis zu ganz normalen Bürgern bei täglichen Verrichtungen, von mythischen und real existierenden Tieren bis zu Pflanzen, Lebensmitteln und Werkzeugen, so repräsentieren doch fast alle Darstellungen einen Sinngehalt, erzählen eine Geschichte, illustrieren einen Mythos oder eine Legende, sind bildlicher Ausdruck eines Sprichwortes, einer Lebenweisheit oder einer moralischen Botschaft. Besonders ausgeprägt ist dies bei den vielen Gottheiten, die als Netsuke ihrem Träger Glück, ein langes Leben, Gesundheit, Sorgenfreiheit, Güte, Freigiebigkeit, Reichtum, Fruchtbarkeit oder Tugendhaftigkeit bringen sollen. Die Ikonographie dieser Darstellungen steht unverrückbar fest; die Gottheiten – und es gibt deren viele – sind an Körperform und Haltung, an ihrem Ausdruck, den Gesten, der Frisur und der Kleidung und schließlich den Accessoires stets zu erkennen und es ist spannend festzustellen, wie die Künstler dennoch den engen Spielraum zu nutzen verstehen, so dass trotz aller Übereinstimmungen kein Netsuke dem anderen gleicht und wie es also künstlerische Kreativität mit vermeintlich kleinen Schritten vermag, gewöhnliche Wiederholung zu wahrer Kunst zu adeln. Aber auch dann, wenn der Spielraum für den Künstler größer ist, etwa bei Sishi, dem Tempellöwen mit der beweglichen Kugel im geöffneten Maul, bei den kraftstrotzenden Sumo-Ringern oder dem grimmigen Dämonenfänger Shoki offenbaren die Vergleichsobjekte die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten bei ein und demselben Thema.

Damit nicht genug sind Langeggers begleitende Texte ein zugleich lehrreicher und amüsanter Ausflug durch japanische Lebenswelten der Edo-Zeit (1603-1868). Zu jedem einzelnen Netsuke werden nicht nur die ikonographischen Details erklärt, sondern auch der mit dieser Darstellung verbundene Sinngehalt. So ist die stets nackt und recht vollschlank dargestellte Okame nicht nur die Göttin der Fruchtbarkeit und Lustbarkeit; sie spielte schon bei der Inbesitznahme Japans durch das Menschengeschlecht eine verführerische Rolle. Auch der bei den Netsuke-Künstlern beliebte Affenkönig Songoku war, wenn auch auf eher unrühmliche Weise an der Entstehung der Welt beteiligt, indem er seine zauberischen Fähigkeiten schamlos für allerlei Streiche missbrauchte, bis er, bekehrt, schließlich Buddhaschaft erlangte. Krake und Oktopus gelten als sinnlich, stellen schönen Fischermädchen nach und gelten der vielen Arme wegen als Sinnbild für Glück und Kindersegen. Jo und Uba, stets dargestellt in einem aufklappbaren Pinienzapfen sind das klassische alte Ehepaar, die japanischen Philemon und Baucis, Glücksbringer für junge Paare. Baku schließlich ist ein Fabeltier mit Elefantenrüssel, Eberzähnen, Löwenmähne und vier Klauen in jeder Extremität, ein bei Sammlern hochbegehrtes Netsuke, den Menschen wohlgesonnen und bekannt dafür, dass es bösen Träumen ein Ende bereitet. Diese und Dutzende weiterer Mythen, Legenden und Märchen, wahren und erfundenen Geschichten bieten einen unterhaltsamen Zugang zur originellen und humorvollen Welt der Netsuke, einer Welt der Weisheit, der Heiterkeit und des oft unbekümmert respektlosen Umgangs mit hehren Werten.

 

 

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