Animals in Text and Textile – Storytelling in the Medieval World

Animals in Text and Textile – Storytelling in the Medieval World

 

Autor/en:        Evelin Wetter, Kathryn Starkey (Hrsg)

Verlag:           Abegg-Stiftung

Erschienen:    Riggisberg 2019

Seiten:            304

Buchart:         Broschur

Preis:              CHF 85,00

ISBN:             978-3-905014-68-6

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Den Vogel Greif oder das Einhorn wird man in Brehms Tierleben nicht finden, geschweige denn den Basilisken oder den Caladrius. Auch Bernhard Grzimeks Enzyklopädie des Tierreichs, dem umfangreichsten je erschienenen Tierlexikon, das in 13 Bänden über 8000 Tiere beschreibt, sind diese Tiere fremd. Geht man in der reichhaltigen zoologischen Literatur einige Jahrhunderte zurück, so stößt man in Conrad Gessners (1516-1565) fünfbändigem „Thierbuch“ (historia animalum) auf eine ganze Reihe von Fabeltieren, deren Existenz, etwa das Einhorn, es allerdings als zweifelhaft erachtet. Gessner orientierte sich an den Vorgaben des Aristoteles (384-322 v.Chr.), der als Begründer der modernen Zoologie gilt, dessen 550 in seiner historia animalum vorwiegend aufgrund von Naturbeobachtungen genannten Tiere aber keine Fabelwesen enthalten. So eingegrenzt werden Greif, Einhorn und Konsorten zu Erscheinungsformen des Mittelalters, zu mythischen Kreaturen, die in den damals „bestiarum“ genannten Handschriften über die Tierwelt ihr Wesen oder auch Unwesen getrieben haben. Und in der Tat gründet die mittelalterliche Zoologie auf einem „Physiologus“ genannten, frühmittelalterlichen Traktat, das vermutlich im 2. Jahrhundert in Alexandria entstanden ist. Der Physiologus ist eine populärtheologische Schrift, die in allegorischer Anlehnung an Eigenschaften der Tiere die wichtigsten Sätze der christlichen Glaubenslehre zum Ausdruck bringt. Er war als anerkanntes Lehrbuch der christlichen Zoologie außerordentlich populär und seine Bedeutung erlosch erst mit dem Ende des Mittelalters.

Hirsch, Hund und Hase, Einhorn, Greif und Basilisk, reale und mythische Tiere, und was sie in mittelalterlichen Texten und Textilien erzählen und bedeuten, war im September 2016 das Thema eines von der Abegg-Stiftung veranstalteten fakultätsübergreifenden Symposiums. Die Beiträge von sechzehn Kunsthistoriker*n, Philolog*en, Literaturwissenschaftler*n und Archäolog*en, allesamt im Mittelalter quasi zu Hause, sind nun als 23. Folge der Riggisberger Berichte erschienen. Was dem interessierten Konsumenten mittelalterlicher Kunst, sei es in Form der Bewunderung kostbarer Seidengewebe, dem Genuss von Literatur und Poesie oder der Freude an feiner Buchmalerei, Illumination oder bildhafter Stickerei als bloße Dekoration oder animalisches Beiwerk erscheinen mag, die Darstellung von Tieren, hat in Wahrheit fast immer eine tiefe Bedeutung. Die komplexe Rolle von Tieren bei der Vermittlung wesentlicher erzählerischer Elemente, das „Storytelling in the Medieval World“, wie es in dem englischen Titel so angelsächsisch prägnant heißt, ist Gegenstand der Beiträge und dient den Zweck, aus literarischen Quellen neue Einsichten für das Verständnis mittelalterlicher Textilien zu gewinnen und umgekehrt. Über die Darstellung von Tieren treten Texte und Textilien in Interaktion und stehen für den sinnbildlichen Zusammenhang zwischen Weben und Schreiben, wie er etwa in der Metapher des „Webens von Worten“ für Poesie trefflich zum Ausdruck kommt.

Um das komplexe Thema zu strukturieren sind die sechzehn Essays in sechs Kapiteln geordnet, deren erstes die herausragende Bedeutung von textilen Tierdarstellungen sowohl in der kirchlichen wie in der säkularen Kultur des Mittelalters behandelt. Als besonders typisch für die vielen in Wort und Bild zitierten Beispiele seien hier ein als Tapisserie gearbeitetes Antependium des 13. Jahrhunderts aus Schloss Thun für den kirchlichen Bereich und der berühmte Mantel des Normannenkönigs Roger II (12.Jh.) aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien für ein profanes Textil genannt. Die Beiträge des zweiten Kapitels befassen sich mit Texten, die Tiere auf mysteriöse Art und Weise präsentieren. Hier begegnen wir unter anderem dem Basilisk und dem Caladrius, wobei allerdings die Visualisierung dieser mythischen Tiere dem Leser überlassen bleibt. In Kapitel drei befassen sich vier Beiträge mit der Symbolik mittelalterlicher Tierdarstellungen. So ist das Einhorn, dem Physiologus folgend, ein Symbol für Christus, steht aber im profanen Kontext, etwa in der höfischen Kultur für die Kraft der Frau und für die Liebe schlechthin. An Drache und Phönix wird der Bedeutungswandel demonstriert, den Motive auf ihrer Wanderung von Ost nach West erleben können. In China vor allem symbolisch für den Kaiser und die Kaiserin benutzt, wandelt sich Phönix in italienischen Seiden des 14. Jahrhunderts zum christlichen Symbol während der Drache überwiegend und ganz im Gegensatz zu seiner symbolischen Funktion in China als Unheilbringer gilt. Auch die Darstellungen des Vogels Greif aus frühen byzantinischen Seiden zeigen ein eher monströses Ungeheuer, was aber die westliche Gesellschaft nicht hinderte, diese Textilien als extravaganten Luxus zu schätzen. Der Wolf schließlich spielt in mittelalterlichen Heiligenlegenden eine vielfältige symbolische Rolle. Im dann folgenden, dem vierten Kapitel, wird das Tier in der mittelalterlichen Heraldik behandelt. Löwen, Leoparden und Panther gehörten in ganz Europa zu den beliebtesten Tieren, um die Bedeutung einer Familie in ihrem Wappen zu kennzeichnen. Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ erweist sich dann als eine wahre Fundgrube heraldischer Tiere sowohl realer wie mythischer Art, und die häufige Darstellung edler Hunde auf Bildern aber auch Textilien steht für das emotionale Band zwischen Mensch und Hund. Höfisches Leben und höfische Minne sind Gegenstand des fünften Kapitels und hier ist es nicht nur das Einhorn sondern es sind auch Hunde, Falken, Tauben und gar Esel, die Loyalität und Treue unter Liebenden symbolisieren. Prominenter Gegenstand des letzten Kapitels ist die Jagd, eines der beliebtesten Vergnügen der besseren Gesellschaft und häufiges Thema in der Literatur und auf Textilien. Gewebt oder gestickt, gereimt oder in Prosa, beim „Storytelling in the Medieval World“ spielen Tiere eine wichtige und komplexe Rolle, die durch die Essays dieses Symposiumsbandes mit wissenschaftlicher Akribie erschlossen wird.

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