Hidden Treasures of the Himalaya – Tibetan Manuscripts, Paintings and Sculptures of Dolpo

Autor/en: Amy Heller
Verlag: Serindia Publications
Erschienen: Chicago 2009
Seiten: 252
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: USD 95
ISBN: 978-1-932476-44-6
Link: www.serindia.com
Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2010

Besprechung:
Es war einmal ein Königssohn. Immer wenn er der Verwaltung seiner Reichtümer müde wurde, verließ er seine Welt um in andere, entlegene, von hohen Bergen und tiefen Tälern geprägte fremde Länder einzutauchen. Zu Fuß und nur von wenigen Getreuen, von Packtieren und ihren Hirten begleitet, begab er sich dort auf die Suche nach der Vergangenheit, um in der Begegnung mit altem Wissen, erleuchteter Weisheit und der Schönheit der Relikte alter Kulturen neue Kraft für seine Pflichten zu finden. Es war auf einer dieser Reisen, als sich einer seiner Begleiter nach vielen Tagen der gemeinsamen Wanderung als Wissender offenbarte. Er hatte in ihm die verwandte Seele entdeckt und führte ihn zu einem seit langer Zeit verborgenen Schatz. So war der Königssohn der erste, der die hinter einer zugemauerten Dorftempelwand versteckte, unermesslich reiche Bibliothek alter, illuminierter Handschriften wieder sehen durfte und sie zur Mehrung von Wissen und Weisheit seiner Welt zur Kenntnis bringen konnte. Was hier wie ein Märchen klingt ist ein reiner Tatsachenbericht, zu lesen in Thomas J. Pritzkers Vorwort zur Publikation der von ihm im unscheinbaren Nesar-Tempel des Dorfes Bicher im Dolpo entdeckten Bibliothek von weit über sechshundert tibetischen Manuskripten aus der Zeit vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Tom Pritzker ist zwar kein Königssohn, aber, übertragen auf unsere Zeit, sei der Vergleich gestattet. Der Erbe und äußerst aktive, vielseitige Sproß einer der reichsten amerikanischen Familien (Banken, Hyatt-Hotels) ist neben seiner Tätigkeit im modernen Management seit Jahrzehnten immer wieder im Himalaya unterwegs und hat dort schon manchen Schatz entdeckt und publiziert, z.B. die Wandmalereien von Dungkar oder bislang unbekannte Lehmskulpturen in Piyang in West-Tibet. Der ihm nun von Lama Tenzin von Bicher im Dolpo zugänglich gemachte Bibliotheksschatz stellt aber alle früheren Entdeckungen weit in den Schatten. Märchenhaft weil durchaus nicht üblich bei solchen Schatzfunden ist auch seine weitere Behandlung, wissenschaftliche Aufarbeitung und die nunmehr vorliegende Publikation. Pritzker veranlasste mit Zustimmung der Bewohner des Dorfes Bicher die Bergung, Verwahrung und Restaurierung dieses Schatzes, besorgte die vollständige fotografische Dokumentation und sicherte sich mit der in Paris tätigen Tibetologin Amy Heller die denkbar beste Autorin für das von Serindia verlegte Buch.

Das Dolpo ist eine von hohen Gebirgszügen umgebene und im Nordosten an das tibetische Hochland angrenzende Bergregion im Nordwesten Nepals, die bis heute nur in mehrtägigen, beschwerlichen Fußmärschen über mehrere 5000 Meter hohe Pässe erreichbar ist. Einst ein wegen seiner zahlreichen Übergänge nach Tibet wichtiger Durchgangsplatz für Handelskarawanen ist das Dolpo schon seit Jahrhunderten, vor allem aber seit der rigorosen chinesischen Schließung der Himalaya-Pässe zu einer fast vergessenen, ökonomisch unbedeutenden Grenzregion geworden, jüngst bekannt nur durch den Dokumentarfilm „Dolpo Tulku“ als eines der letzten Rückzugsgebiete einer sehr ursprünglichen, tibetisch-buddhistischen Kultur. Amy Heller berichtet über die Geschichte des Dolpo, das im Zuge der von Westtibet und den damaligen Königreichen Purang, Guge und Margul ausgehenden zweiten buddhistischen Bekehrung Tibets wohl im 11. Jahrhundert buddhistisch wurde. Nur wenig später wurde dort in dem Dorf Bicher der Nesar-Tempel gegründet. Erhaltene frühe Architekturdetails, vor allem einige Säulenkapitelle, unter anderem mit einer Darstellung der fünf transzendenten Buddhas, reichen in diese archaische Zeit zurück. Für die von der Autorin ebenfalls dargestellte Chronik von Bicher mit dem Nesar-Tempel und den nahe gelegenen, weiteren kleinen Klöstern Lang und Samling waren dann vor allem Widmungen hilfreich, die in manchen der Manuskripte enthalten sind und die die Namen der Stifter, der Schreiber und der zur Zeit der Niederschrift regierenden Könige, im Idealfall sogar deren Portraits preisgeben. Das Dolpo und seine Siedlungen waren danach stets Bestandteil des tibetischen Kulturkreises und gleichzeitig im Einflussbereich nepalischer Königreiche wie Khasá oder Mustang.

Die Dorfbibliothek von Bicher wurde jedenfalls bis ins 16. Jahrhundert genutzt, die Texte wurden gelesen und rezitiert und die Bücher nach tibetischem Brauch mit Gebeten und Mantras in Prozessionen durch die Felder getragen, um bei lokalen Göttern für Regen und gute Ernte zu bitten. Die weit überwiegende Anzahl der insgesamt 642, auf tibetische Art zwischen beschnitzten und bemalten hölzernen Buchdeckeln im durchschnittlichen Format von 70×24 cm verwahrten Manuskripte sind Abschriften der Prajnaparamita-Sutra. Dieser umfangreiche und in zahlreichen Versionen bekannte Grundlagentext des Mahayana- und des Vajrayana-Buddhismus lehrt das Wissen um die Leerheit, um die illusionistische Natur des Ich und aller Phänomene. Es ist aber nicht dieser vielfach kommentierte Text dieser Handschriften, dem der Hauptteil des Buches gewidmet ist, sondern es sind die wunderbar erhaltenen Miniaturen, die sich in vielen der Handschriften als Illustration der kalligraphisch gestalteten Textanfänge finden. Amy Heller beschreibt diese Miniaturen nach ihrem Inhalt, würdigt ihre Ästhetik und Schönheit und stellt sie, im Vergleich mit entsprechenden Bildern aus anderen Sammlungen und Bibliotheken und mit der besser bekannten Kunst von Ladakh und West-Tibet – Alchi und Tabo sind hier zu erwähnen – in den historischen und kulturellen Kontext jener Zeit. Die fein ausgeführten und farbfrischen Illustrationen zeigen die wichtigsten Begebenheiten aus dem Leben des historischen Buddha Shakyamuni, seine Geburt etwa, den Moment der Erleuchtung in Bodhgaya, seine erste Rede in Sarnath und den Übergang ins Nirvana . Wir sehen Buddha mit seinem Schüler Ananda, mit Indra und Brahma und begegnen der Grünen Tara und Avalokiteshvara. Anhand der Datierungen der Handschriften, in zahlreichen Fällen durch C-14-Untersuchungen des Papiers unterstützt, lässt sich die Entwicklung des Illustrationsstils von zunächst stark indisch und nepalisch beeinflusst über westtibetisch bis hin zu lokalen Darstellungsweisen verfolgen. Gerade diese letzteren sind von großem Interesse, da Stifter, Mönche und Regenten detailliert mit ihrem Schmuck und in den lokalen Kostümen ihrer Zeit wiedergegeben sind. So entwickelt sich aus den Illustrationen als einer historischen Quelle zusammen mit den schriftlichen Informationen der Handschriften eine Kulturgeschichte des Dolpo, einer nur wenig bekannten und von der Himalaya-Literatur vernachlässigten Region des tibetischen Kulturkreises, die vor Jahrhunderten eine ganz andere Bedeutung hatte als man das heute vermuten möchte. Die Dorfbibliothek des Nesar-Tempels von Bicher im Dolpo ist ein einzigartiger Kulturschatz, dessen Publikation nicht nur für Tibetologen, sondern für jeden Kenner und Liebhaber tibetisch-buddhistischer Kunst zu empfehlen ist.

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