The Traditional Lhasa House – Typology of an Endangered Species

The Traditional Lhasa House – Typology of an Endangered Species

 

Autor/en:        André Alexander

Verlag:           LIT Verlag

Erschienen:    Berlin, Wien, Zürich, o.J. (2019)

Seiten:            410

Buchart:         Broschur

Preis:              € 69,90

ISBN:            978-3-643-90203-0

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Als der 22-jährige  André Alexander 1987 dem begonnenen Studium der Geschichte und Architektur in Berlin den Rücken kehrte und voller Abenteuerlust nach dem kurz zuvor für Ausländer geöffneten Tibet aufbrach, konnte er nicht wissen, dass er mehr als zwei Jahrzehnte später von eben dieser Universität den Doktortitel erhalten würde. Die Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Lhasa, die Hauptstadt des von China okkupierten Tibet präsentierte sich, abgesehen von den während der Kulturrevolution zerstörten Tempeln und Klöstern mit einer weitgehend intakten Altstadt, die André faszinierte. Besuche in den darauf folgenden Jahren machten ihm bewusst, dass die tibetisch-chinesische Verwaltung konsequent alte Bausubstanz durch Neubauten ersetzen wollte. Aus seiner spontanen Aktion, den Altbestand photographisch zu dokumentieren erwuchs eine Initiative und Kooperation mit der örtlichen tibetischen Verwaltung, die niemand je für möglich gehalten hätte. Mit Charisma, Charme und Hartnäckigkeit und der Gründung des Tibet Heritage Fund im Jahre 1996, gelang es André Alexander, 20 historische Anwesen in der Altstadt von Lhasa mit traditionellen Materialien und Techniken zu restaurieren, hunderte von Tibetern in vergessenen Handwerkstechniken auszubilden und – last not least – mit Billigung des Lhasa City Cultural Relics Office für 93 Objekte den Status eines offiziellen Denkmalschutzes zu erlangen. Dass dies auf Dauer nicht gut gehen konnte, ist kaum erstaunlich. Im Jahre 2000 stoppten die chinesischen Behörden die Aktion und André verlegte seine Aktivitäten vor allem nach Leh in Ladakh – doch das ist schon eine andere Geschichte.

Neben einer Bestandsaufnahme der Tempel Lhasas (The Temples of Lhasa, Serindia, London 2005), hat André Alexander und sein Team internationaler und tibetischer Helfer eine sorgfältige Dokumentation von 127 historischen Wohnbauten in Lhasa – vom mehrstöckigen Adelspalast bis zu einfachen Hofhäusern – erarbeitet. Diese in ihrer Bedeutung für die tibetische Kultur nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit hat Prof. Dr. Peter Herrle, seinerzeit der Leiter der an der TU Berlin angesiedelten Organisation HABITAT UNIT als Dissertation angenommen. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Promotion von Studienabbrechern ist in der zuständigen Promotionsordnung nicht vorgesehen. Dem Einsatz von Prof. Dr. Herrle und zustimmenden Gutachten von zahlreichen international renommierten Wissenschaftlern, vor allem von Tibetologen und Historikern, gelang es, den Widerstand von Fakultät und Senat zu brechen und die Annahme der Arbeit zur Promotion durchzusetzen. Wenige Monate nach dem bestandenen Rigorosum starb André Alexander völlig überraschend an Herzversagen. Er war 47 Jahre alt geworden.

Die nun in der Schriftenreihe der HABITAT INTERNATIONAL, herausgegeben von Prof. Dr. Peter Herrle, publizierte Dissertation von André Alexander ist eines der wichtigsten Bücher zu einem inzwischen fast vollständig verschwundenen Teil der tibetischen Kultur, vor allem aber das Vermächtnis eines ungewöhnlichen Menschen, eines Idealisten und Visionärs, eines Menschen, der Ungewöhnliches nicht nur gedacht sondern auch durchgesetzt hat. Dass der 22-jährige Rucksacktourist in Lhasa die planmäßige Zerstörung der Altstadt nicht nur wahrnahm sondern damit begann, die noch vorhandene alte Bausubstanz zu erfassen und schließlich wissenschaftlich zu dokumentieren, rettungsbedürftige Bauten in traditioneller Bauweise zu sanieren und sogar einen Denkmalschutz durchzusetzen, und das alles im Brennpunkt des von China gewaltsam besetzten Tibet, ist fast so etwas wie ein modernes Märchen, doch leider eines ohne ein Happy End.

Die vom Autor in der Einleitung nüchtern aufgezeichnete Chronologie seiner Tätigkeit in Lhasa von 1987 bis 2000 ist die Geschichte eines Wettlaufs von Denkmalschutz und Zerstörung oder – mit anderen Worten – von Denkmalschutz und moderner chinesischer Stadtentwicklung. In all den Jahren, die Alexander beobachten konnte, sind aus dem 1987 noch weitgehend intakten historischen Stadtbild Jahr für Jahr Dutzende Häuser zerstört und durch neue Bauten ersetzt worden. Dieser Prozess fand auch nach 2000 seine Fortsetzung und erfasste unterschiedslos auch solche Bauten, deren Denkmalschutz Alexander zunächst durchgesetzt hatte. Umso bedeutsamer ist die Dokumentation, die in Verbindung mit einem genauen Stadtplan des alten Lhasa – hier konnte Alexander auf den 1948 von Peter Aufschnaiter im Auftrage der tibetischen Regierung zur Vorbereitung der Elektrifizierung Lhasas minutiös gezeichneten Plan zurückgreifen – mit zahlreichen Fotos, zeichnerischen Ansichten, Grundrissen sowie bautechnischen aber auch kunsthistorischen Detailaufnahmen ein anschauliches Bild einer den Bedürfnissen der Bauherren (Aristokraten, hohe Lamas, Handwerker, Bürger) angepassten individuellen und doch städtebaulich einheitlichen Architektur vermittelt. Ein eigenes Kapitel ist den besonderen Design-Charakteristiken des Lhasa-Hauses gewidmet, vor allem der so typischen Konstruktion von Fenstern und Toren, der Farbgebung und dem kennzeichnenden trapezoiden Umriß der Bauten mit ihren sich nach oben verjüngenden Mauern.

André Alexanders Disseration über die inzwischen weitgehend zerstörte und zu einer Art Museum umgewandelte Altstadt von Lhasa ist ein Muss für Architekten, Denkmalschützer, Tibetologen und Kunsthistoriker. Wegen der knappen aber objektiven Einführung in die Geschichte Tibets und seiner Hauptstadt Lhasa, einem Überblick über die bisher nur unzureichend publizierte tibetische Architektur und wertvollen Einblicken in die traditionelle tibetische Gesellschaft ist das Buch darüber hinaus ein Gewinn für jeden an Tibet Interessierten.

Print Friendly, PDF & Email