Textiles of Japan – The Thomas Murray Collection

Textiles of Japan – The Thomas Murray Collection

 

Autor/en:        Thomas Murray, Virginia Soenksen

Verlag:           Prestel Verlag

Erschienen:    München London New York 2018

Seiten:            530

Buchart:         Leinen mit Schutzumschlag

Preis:              USD 85,00

ISBN:             978-3-7913-8520-4

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Vom Norden Hokkaidos bis zur südlichsten Spitze von Okinawa ist es so weit wie von Trondheim bis nach Athen. Über 2600 Kilometer erstreckt sich das japanische Inselreich, und die aus seinem fast schon arktischen Norden und dem subtropischen Süden stammenden Textilien könnten unterschiedlicher kaum sein. Während die Roben der Ainu aus Fischhaut, Nessel- oder Rindenbast mit Applikationen und Stickereien aus der mystisch sibirisch-schamanistischen Formenwelt verziert sind, prunken die vom südwestlichen China beeinflussten ikat- oder reservegefärbten Stoffe der Aristokratie von Okinawa mit der Buntheit und floralen Vielfalt ihrer tropischen Umgebung. Japanisch im eigentlichen Sinne sind sie beide nicht. Die Ainu, Ureinwohner von Hokkaido ebenso wie der russischen Kurilen und der sibirischen Halbinsel Sachalin, entstammen einer sibirischen Population und sind nordamerikanischen Indianern näher als den Japanern. Okinawa im Süden des Archipels war über Jahrhunderte die Hauptinsel des kleinen, unabhängigen Inselkönigreiches Ryukyu  und wurde, ebenso wie Hokkaido erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert politisch zu einem Teil Japans. Die Ainu ebenso wie die Nachkommen von Ryukyu sind anerkannte, wenn auch nicht immer gleichgestellte Minderheiten im heutigen Japan.

Dazwischen, sowohl geographisch wie auch in dem Buch über die Sammlung japanischer Textilien von Thomas Murray ist alles durch und durch japanisch und ganz im Sinne der von dem japanischen Philosophen und Kunstkritiker Soetsu Yanagi (1889-1961) in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts begründeten „Mingei-Bewegung“, die sich der Renaissance und Rettung der japanischen Volkskunst angenommen hat. Yanagi, einige prominente japanische Keramiker und der Brite Bernard Leach waren entsetzt über den Niedergang des japanischen Kunsthandwerks als Folge der industriellen Serienproduktion mit ihrer einfallslosen Massenware und propagierten die Schönheit funktionaler, handwerklich und anonym gefertigter Gebrauchsgegenstände wie etwa Teekeramik oder eben Arbeitskleidung und Haushaltstextilien. Die Mingei-Bewegung findet unter dem Stichwort „Schönheit der einfachen Dinge“ bis heute Beachtung.

Thomas Murray, prominenter Händler für südostasiatische Textilien und Skulpturen, outet sich mit diesem Buch über seine grandiose und umfangreiche Sammlung von Textilien aus Japan als Anhänger der Mingei-Bewegung, bekennender Alt-Hippie und äußerst engagierter Sammler, welche drei Leidenschaften er trefflich unter einen Hut zu bringen versteht. Um das für den Leser und Textilfreund in die beste Form zu bringen hat sich Thomas Murray der Mitwirkung von auf ihren Fachgebieten anerkannten Kapazitäten versichert, Virginia Soenksen von der James Madison University in Virginia für die Objektbeschreibungen, Don Tuttle für die Fotografie, Misha Anikst für das Design und Danny Shaffer mit dem HALI-Team als Herausgeber – um hier nur die Wichtigsten zu nennen. Das Ergebnis ist so überzeugend wie gewichtig: Gezeigt werden nicht weniger als 35 Ainu-Objekte, davon allein 24 Roben aus Lachshaut (aus Sibirien – Region Armur), Pflanzenfasern und Baumwolle, 99 Mingei-Textilien, hier vor allem die Vielfalt der unterschiedlichsten Färbe- und Dekortechniken mit Indigo und die patchwork-artige Zweitverwendung verbrauchter Bekleidung und, last not least, Textilkunst des Hofes und der Aristokratie von Okinawa mit 21 farbenprächtigen Roben und über 30 Fragmenten und Musterteilen der dekorativ-raffinierten, bingata genannten, reservegefärbten Textilien. Das alles anschaulich und oft in formatfüllenden Detailaufnahmen prächtig präsentiert, unter Verwendung der vielfältigen japanischen Bezeichnungen geordnet und beschrieben, summiert sich im übergroßem Format auf 530 Seiten zu einem 4-Kilogramm-Buch der Superlative, an dem jeder Sammler und Freund von Textilien ebenso wie von fernöstlicher Ästhetik seine helle Freude haben wird.

Der weit überwiegende Teil der Sammlung datiert aus dem, meist späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert, reicht aber mit einigen Stücken bis ins 18. Jahrhundert zurück. Die fast durchweg bestens erhaltenen  Objekte stammen damit aus einer Zeit vor der Gründung der Mingei-Bewegung. Dieser japanischen Volkskunst-Bewegung ist es jedoch zu verdanken, dass diese durchweg anonyme Textilkunst beizeiten beachtet, gesammelt und bewahrt wurde. Von den höfischen Okinawa-Textilien und einigen für rituelle oder festtägliche Zwecke, etwa für das Gion Matsuri Festival in Kyoto gefertigten Roben abgesehen, besteht die Sammlung aus der funktionalen Arbeitskleidung von Bauern, Jägern und Fischern, aus Decken für die japanischen Schlafstätten „futon“, aus Alltags- und Arbeits-Kimonos für Frauen und aus allerlei rechteckigen Textilien für vielfältige, alltägliche Zwecke. Sie waren zweckmäßig geschnitten, um bei der Arbeit nicht zu behindern, durch entsprechende Web- und andere Techniken geeignet, um vor Regen, Kälte oder Feuer zu schützen und trotz aller Zweckmäßigkeit mit schutzgewährender Symbolik und mit einem erstaunlichen Sinn für Schönheit und Harmonie dekoriert und verziert. Die Sammlung vermittelt ohne jeden Rückgriff auf die japanische textile Hochkultur der No-Kostüme oder der höfischen Kosode den Eindruck einer nahezu unerschöpflichen Kreativität bei der Gestaltung von Gebrauchstextilien.

Doch zurück zum beeindruckenden Dekor der Ainu-Roben. Thomas Murray verwendet für die Ästhetik dieser Muster den gut kennzeichnenden aber schwer übersetzbaren Begriff „curvilinear“. Es sind Muster, die geschaffen wurden, um böse Geister fernzuhalten. Für uns aufgeklärte Textilfreunde des 21. Jahrhunderts haben sie genau den gegensätzlichen Effekt: sie ziehen uns in ihre labyrinthische Struktur und machen es schwer, sich wieder von ihnen zu lösen. Thomas Murray „gets high“ wenn er diese Kunst sieht und vergleicht das Gefühl mit den psychedelischen Trips der 60er und 70er Jahre. So etwas Ähnliches muss August Macke empfunden haben, als er 1912 seinen Beitrag „Die Masken“ für Kandinskys Schrift „Der Blaue Reiter“ schrieb und sich zur expressionistischen Kunst auf die Abbildung eines „Häuptlingskragens aus Alaska“ des Münchner Völkerkundemuseums (Museum Fünf Kontinente) berief, der nun fast identisch als ein Textil der Tlingit Indianer von der pazifischen Nordwestküste des amerikanischen Kontinents auch von Thomas Murray zitiert wird. Die Verwandtschaft mit den Taotie-Masken auf frühen chinesischen Bronzen macht den Ainu-Dekor dann nur noch geheimnisvoller.

 

 

 

 

 

 

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