Indiens Tibet – Tibets Indien – Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaja

Autor/en: Peter van Ham
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2009
Seiten: 240
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 45.–
ISBN: 978-3-7774-2221-3
Kommentar: Michael Buddeberg, September 2009

Besprechung:
Der westliche Himalaya, dort, wo sich die Hauptkette des mächtigsten Gebirgszuges dieser Welt nach Nordwest wendet, um im weiteren Verlauf mit den Gebirgsketten des Karakorum, Pamir und Hindukusch zu verschmelzen, ist eines der unwegsamsten Gebiete der Erde. Geologisch relativ jung ist der Westhimalaya geprägt durch tief eingeschnittene Flusstäler, steile Bergflanken und von hohen, vergletscherten Gipfeln umrahmte Nebentäler. Aus den ausgesetzten, über hohe Pässe führenden Saumpfaden früherer Zeit sind inzwischen nicht minder gefährliche, oft überhaupt nur wenige Monate im Jahr und nur mit geländegängigen Fahrzeugen befahrbare Schotterpisten geworden. Auch der Monsun hat es schwer in diesem Gewirr von Bergketten und sich windenden Tälern und kann so nur in tieferen und nach Süden offenen Lagen für etwas Ackerland und Fruchtbarkeit sorgen – der Rest ist arides Hochland, Bergwüste, eine lebensfeindliche und zugleich grandiose Welt. Dass hier überhaupt Menschen siedelten, ist gerade der Unwegsamkeit zu danken, die die Region zum Rückzugsgebiet bedrängter und vertriebener Volkgruppen machte, und natürlich dem wichtigen Umstand, dass sich im Westhimalaya wichtige Handelsrouten kreuzten, die Zentralasien mit dem Subkontinent und das ferne Asien mit dem Mittleren Osten, ja mit Europa verbanden. So entwickelte sich eine bis heute bestehende – auch dies eine Folge der bis in unsere Tage fortdauernden Unzugänglichkeit -, erstaunliche ethnische und kulturelle Vielfalt, zumal auf den Handelswegen nicht nur Waren, sondern auch philosophische Ideen, religiöse Konzepte und Kunst verbreitet wurden, die die Bewohner annahmen, mit eigenem Gedankengut und Fähigkeiten verbanden und bewahrten. So besitzt der heute politisch zu den indischen Bundesstaaten Himachal Pradesh und Jammu & Kaschmir gehörende Westhimalaya trotz seiner extrem geringen Bevölkerungsdichte einen kaum fassbaren Reichtum an Orten von überragender kultureller Bedeutung, auch wenn das oft nur ein von wenigen Menschen bewohntes Dorf oder ein in beeindruckender Einsamkeit errichtetes Kloster ist. Hier sind an erster Stelle die frühen Zeugnisse indo-tibetischer Kultur zu nennen. Aufgrund der Zerstörungen im nahe gelegenen Tibet – die Greuel und der Vandalimus der chinesischen Kulturrevolution reichten bis in die Einsamkeit Westtibets und sorgten für die gründliche Zerstörung so bedeutender Orte wie Tholing und Tsaparang – ist der Westhimalaya heute die einzige Region, in der die Entstehung und frühe Entwicklung der tibetischen Kunst studiert werden können. So steht im Mittelpunkt von Peter van Hams neuem Buch die Kunst des Westhimalaya, beginnend mit Petroglyphen aus vorschristlicher Zeit, mit den ersten Zeugnissen des Buddhismus im 2. Jahrhundert n.Chr. und dann vor allem mit der Entstehung und Blüte einer spezifisch buddhistischen Kultur im Westhimalaya. Es ist dies eine der interessantesten Epochen der Geschichte des tibetischen Kulturraumes und zugleich auch ein wertvolles Zeugnis des späten indischen Buddhismus, der in seiner Heimat ab dem 12. Jahrhundert durch muslimische Invasoren zunehmend bedroht und schließlich ganz ausgelöscht wurde. Mit wundervollen Fotodokumenten, unter anderem aus den Archiven von Michael Henss oder Helmut Neumann, erleben wir die Entwicklung der buddhistischen tibetischen Kunst anhand der in den vielen Klöstern und Tempeln aus frühester Zeit erhaltenen Architektur, Skulptur und Malerei. Natürlich gibt es zu solchen Juwelen früher tibetischer Kunst wie der Sumtsek-Tempel in Alchi (Ladakh) oder der Tsug Lhakang von Tabo (Spiti) bereits bedeutende Monographien und auch die oft großartigen Wandmalereien dutzender weniger bekannter Tempel sind fast alle publiziert, doch die knappe, zusammenfassende und gut illustrierte Übersicht, wie sie Peter van Ham hier gibt, hat bisher gefehlt. Um dieses zentrale Kapitel über „7000 Jahre Einflüsse, Stile und Entwicklungen der Kunst des Westhimalaya“ herum ranken sich inhaltsreiche und mit instruktivem Fotomaterial versehene Beschreibungen der Geschichte, der Kultur und der Menschen so verschiedener Orte, Täler und Landschaften wie Shimla, Kinnaur, Spiti, Lahaul, Zanskar, Rupshu, Ladakh, Nubra und Dah-Hanu. Die geographische Lage, ökonomische und landwirtschaftliche Grundlagen, architektonische Besonderheiten, Religion und Brauchtum und die oft von Tal zu Tal differierende Geschichte, werden kenntnisreich und reich illustriert dargeboten. Und hier, bei den Illustrationen, findet sich ein weiterer Grund, das Buch zu preisen: Während die Aufnahmen Peter van Hams aus dem Westhimalaya aus seinem und Aglaja Stirns Buch über „Buddhas Bergwüste“ überwiegend schon bekannt sind, überrascht uns der Autor mit einer Gegenüberstellung dieser Aufnahmen mit Fotos, die bereits von Jahrzehnten, vor einem Jahrhundert oder gar im 19. Jahrhundert entstanden. Neben Fotos von Heinrich Harrer aus der Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sind hier vor allem die Aufnahmen von Samuel Bourne (um 1870) zu erwähnen, dem ersten professionellen Fotografen, der sich in die unzugänglichen Bergwüsten Westtibets gewagt hat (heute Sammlung Siegert) und die zahlreichen Fotos des indischen Fotografen und Zeichners Babu Pindi Lal, die dieser 1909 machte, als Mitglied einer von dem Herrnhuther Missionar Francke in den Westhimalaya durchgeführten Expedition (heute im Kern Institute der Universität Leiden). Dabei ist es genauso verblüffend festzustellen, was sich in einhundert Jahren verändert hat, etwa der Ausbau eines Saumpfades zu einer gewagten Passtrasse, und was bis heute fast unverändert erhalten blieb, wie manche der entlegenen Klöster und Tempel und ihre baulichen Details. Doch die Bewahrung kultureller Denkmäler durch die lang währende Unzugänglichkeit dieser Region, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Werte heute extrem gefährdet sind. Der stark zunehmende Tourismus, die Migration aus dem übervölkerten indischen Tiefland, klimatische Veränderungen und indische Entwicklungsprogramme für Aufforstung Gartenbau, Elektrizitätsgewinnung und andere moderne Errungenschaften gefährden zunehmend das über Jahrhunderte aufrecht erhaltene Gleichgewicht eines fragilen Ökosystems ebenso wie die für die Erhaltung von Tradition und Kultur so wichtige Identität der lokalen Bevölkerung. Gerade wegen dieser Gefährdung ist die umfassende Bestandsaufnahme von Kunst und Kultur des Westhimalaya durch Peter van Ham so wichtig.

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