Mittelalterliche Textilien IV – Samte vor 1500

Mittelalterliche Textilien IV – Samte vor 1500

 

Autor/en:        Michael Peter

Verlag:           Abegg-Stiftung

Erschienen:    Riggisberg 2019

Seiten:            584 Seiten in zwei Bänden

Buchart:         Leinen mit Schutzumschlag

Preis:              CHF 280,00

ISBN:             978-3-905014-61-7

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Samtgewebe gehören zu den technisch aufwändigsten aber, wie alle anderen Textilien auch, zu den kurzlebigsten Artefakten menschlichen Schaffens. Zum Gebrauch und Verbrauch bestimmt sind sie als organisches Material darüber hinaus einem natürlichen Zerfall und nicht selten auch dem Appetit kleiner Tiere ausgesetzt. Von einer Sammlung über 500 Jahre alter Samte ist daher kaum mehr als eine Kollektion mehr oder weniger großer Fragmente zu erwarten. Groß ist daher die Überraschung, bei einer ersten Durchsicht des soeben erschienenen Bandes IX der Bestandskataloge der Abegg-Stiftung, der Samtgeweben vor 1500 gewidmet ist, auf eine überraschend große Zahl vollständiger, oft mehrere Rapporte umfassender Webbahnen zu stoßen, die die Schönheit, die Pracht und den Luxus dieser Spitzenleistungen mittelalterlicher Webkunst gleichsam wie in einem Verkaufskatalog präsentieren. Doch der Schein trügt! Die sorgfältige Lektüre offenbart, dass so gut wie alle dieser als originale Webbahn erscheinenden, repräsentativen textilen Objekte kunstvoll aus Dutzenden von mehr oder weniger großen, oft auch winzig kleinen Fragmenten mustergerecht zusammengesetzt wurden.

Werner Abegg (1903-1984), der in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts den Grundstock der Sammlungen der in der 60er Jahren von ihm gegründeten Abegg-Stiftung legte, gehörte einer neuen Generation von Textilsammlern an, die Gewebe nicht länger in den Formen ihres historischen Gebrauchs, sondern in ihrem ursprünglichen Zustand, als Stoffbahn, zu erwerben suchten. Der Handel, allen voran der Münchner Kunsthändler Adolph Loewi, der über viele Jahrzehnte hinweg der wichtigste Lieferant von Werner Abegg bleiben sollte, trug dem Rechnung und spezialisierte sich in seiner Werkstatt in Venedig auf die scheinbar nahtlose Rekonstruktion solcher Musterabschnitte. Unter Anlegung heutiger konservatorischer Grundsätze erscheint solches Handeln als Sakrileg doch darf man nicht vergessen dass auch die Objekte solch akribischer Puzzlearbeiten, also liturgische Textilien oder weltliche Ornate immer wieder der wechselnden Mode entsprechend umgearbeitet worden waren oder als Zweit- oder Drittverwertung aus verbrauchten oder verschenkten Gewändern überhaupt erst entstanden sind. So sind auch die als Paramente erhaltenen Samte der Sammlung, also etwa Kasel im barocken Zuschnitt, in aller Regel aus älteren Ornaten zusammengefügt und als solche eigentlich bereits Fragmente. Es ist das Verdienst der überaus sorgfältigen Untersuchung und Dokumentation sämtlicher Samte durch den Autor, die Geschichte solcher Umarbeitungen über einen gewissen Zeitraum zurückverfolgt und lebendig gemacht zu haben. Im besten Falle haben Auktionskataloge geholfen, nicht nur die Provenienz, sondern auch die Rückverwandlung von Paramentfragmenten in attraktive Stoffbahnen darzustellen wie etwa im Falle eines mehrfarbigen Samtes mit Palmettenmuster aus der Sammlung des österreichischen Bankiers und Kunstsammlers Albert Figdor (1843-1927), der in der legendären Figdor-Auktion 1930 in den Besitz des ungarischen Finanzmagnaten Marczell von Nemes (1866-1930) gelangte. Nach dessen Tod wurde der Samt im Auftrage von Werner Abegg durch Adolph Loewi in der Auktion der Sammlung Nemes 1931 erworben und in dessen venezianischen Werkstätten auseinandergenommen, Einschläge und Nahtumbüge aufgelassen, grössere Abschnitte in kleine und kleinste Teile zertrennt, die Kanten vielfältig verändert und die Teile dann mit kaum sichtbaren Nähten zu mustergerechten Stoffbahnen zusammengenäht, die nicht nur wegen dieser Geschichte, sondern auch ihrer Schönheit wegen vom Autor als „Denkmäler der Sammlungs- ebenso wie der Kunstgeschichte“ bezeichnet werden.

Werner Abegg war noch keine 20 Jahre alt, als er seinen ersten Samt kaufte. Die frühen Samte sollten  zu einem Schwerpunkt seiner Sammlung von  Textilkunst werden. Auch nach seinem Tod wurde dieser Bestand von der Stiftung immer wieder durch bedeutende Erwerbungen ergänzt und bildet heute sowohl nach der Zahl der Objekte als auch nach Vielfalt und künstlerischem Rang der Muster einen der weltweit bedeutendsten seiner Art. Der wegen seines Umfangs auf zwei Bände aufgeteilte Bestandskatalog erfasst in chronologischer Ordnung achtzig europäische, weit überwiegend italienische und einige spanische Samte des späten 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, acht osmanische Samte aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und vier italienische Nachahmungen des 19. Jahrhunderts. Die Beschreibung der einzelnen Objekte folgt stets demselben Schema: Nach der Kurzbezeichnung mit Herkunft, Alter, Inv.-Nr., Provenienz und genauen Maßen folgen detaillierte Ausführungen zu Material und Technik einschließlich der Angaben zum Rapport und der Art und Einrichtung des verwendeten Webstuhls. Den Hinweisen auf parallele Stücke in anderen Sammlungen, einer sorgfältigen Beschreibung des Erhaltungs- und des nähtechnisch vorgefundenen Zustandes sowie des Musters folgt schließlich die meist sehr umfängliche und spannend zu lesende kunsthistorische Einordnung. Über die zahlreichen Anmerkungen und das im Anhang abgedruckte Orts- und Denkmälerregister einschließlich eines Verzeichnisses der abgekürzten Museumsnamen lässt sich die exakte Ein- oder Zuordnung der Objekte in den vom Autor zu Vergleichszwecken herangezogenen internationalen Bestand von fast dreitausend Samten nachvollziehen – eine Arbeit des Autors Michael Peter, die nicht genug bewundert werden kann.

 Die äußerst komplizierte Technik der Samtweberei, die technische Vielfalt und die Experimentierfreude der Weber ebenso wie die Musterentwicklung ermöglichen eine einigermaßen genaue zeitliche Einordnung der Samte vom ausgehenden 14. bis zum späten 15. Jahrhundert. Die zunächst eher kleinteiligen Muster nehmen zur Mitte des 15. Jahrhunderts an Räumlichkeit und Tiefe zu, die Rapporte werden größer und das Palmettenmuster, der “Granatapfelsamt“, wird seit der Mitte des 15. Jahrhunderts neben Wellenranken und Spitzovalen zur alles beherrschenden Ornamentform. Parallel werden Dekorsamte mit ausgesparter Linienzeichnung mehr und mehr gebräuchlich, bei denen nicht mehr der Floreffekt, sondern der technische Grund des Gewebes Muster und Motive bildet. Goldbroschierungen bereichern den Dekor seit dem zweiten Quartal des 15. Jahrhunderts und bleiben bis zu dessen Ende aktuell. Die an den einzelnen Samten verfolgbare Entwicklung der Technik und der Muster wird von Michael Peter in seinem Vorwort zusammengefasst und in den historischen Rahmen gestellt. Mit der Überschrift dieses Vorworts „Die verweigerte Renaissance“ behandelt er das Phänomen, dass sich die Seidenweberei der praktisch alle Kunst- und Lebensformen jener Epoche bestimmenden Rückbesinnung auf die griechische und römische Antike verweigert und ein ganz eigenes Musterrepertoire entwickelt. Beide jedoch erreichen mit dem Ende des 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Die Samte haben als führende Gattung der Webkunst einen wesentlichen Anteil an dieser Blüte der europäischen Seidenweberei. Michael Peters grandioser Bestandskatalog und die in der Werkstatt Loewi kunstvoll wieder entstandenen Webbahnen sind hierfür der beste Beleg.

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