Samt und Seide im Historischen Tirol, 1000-1914

Samt und Seide im Historischen Tirol, 1000-1914

Autor/en:        Richard Vill

Verlag:           Europäische Textilakademie

Erschienen:    Bozen 2018

Seiten:            412

Buchart:         Hardcover mit Schutzumschlag

Preis:              € 89,00

ISBN:             978-88-942606-0-1

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Welcher Sammler ehrwürdiger, antiker Teppiche und Textilien wird sich angesichts der deutlichen Gebrauchsspuren seiner Objekte nicht schon gefragt haben, was sie über ihre wechselvolle Geschichte zu erzählen wüssten wenn sie doch nur sprechen könnten? Doch stumm bewahren sie ihre Geheimnisse für immer und nur ganz selten erlaubt ein Zufall einen Blick in eine Episode ihrer Geschichte. Ein Beispiel hierfür ist die Glockenkasel des Bischof Albuin von Brixen (975-1006), besser bekannt als die Adlerkasel aus dem Diözesanmuseum in der Hofburg Brixen, eines der bedeutendsten und kostbarsten Textilien, die sich aus dem frühen Mittelalter erhalten haben. Das byzantinische, in tiefem Purpur gefärbte Samitgewebe mit monumentalen freischwebenden Adlerfiguren, ausladenden Schwingen und gefächerten Schwanzfedern geriet fast eintausend Jahre nach seiner Erstverwendung in die Wirren des zweiten Weltkriegs. 1937 war die Kasel auf Ersuchen Mussolinis nach Rom gebracht worden, um in einer Ausstellung für Webkunst präsentiert zu werden. Nach Ausbruch des Krieges gelangte sie ins Depot des Vatikans bis der berüchtigte Gauleiter für Vorarlberg und Tirol, Franz Hofer, im November 1943 – man befand sich mit Italien mittlerweile im Kriegszustand – beschloss, diesen Schatz „heimzuholen“. Der Bericht des schließlich mit dieser heiklen Mission beauftragten Priesters aus dem Domkapitel in Brixen über die dreiwöchige Odyssee durch ein zusammenbrechendes Italien mit allerlei menschlichen und unmenschlichen Begegnungen ist Kriminalroman und Zeitdokument zugleich. Die Kasel kam unversehrt zurück nach Brixen und entging so ihrer von Nazi-Größen angedachten Bestimmung als Krönungsmantel Hitlers für die bevorstehende Siegesfeier in Berlin.

Nachzulesen ist das in einer von der Europäischen Textilakademie in Bozen herausgegebenen Kulturgeschichte des historischen Tirol aus der Sicht der dort in Kirchen, Museen, Burgen, Klöstern und Schlössern verwahrten textilen Schätze aus zehn Jahrhunderten. Die geographische Lage der aus Tirol, Südtirol und dem Trentino bestehenden Region als Verbindungspunkt südlicher und nördlicher Kulturen, die politische, strategische und ökonomische Bedeutung der Alpenübergänge, immer wieder wechselnde Dynastien und Machtverhältnisse und vor allem der nie versiegende Handel zwischen Nord und Süd haben einen reichen Bestand an Objekten aus Samt und Seide, von prachtvollen Tapisserien, liturgischen und profanen Kostbarkeiten bis zur Mode aus vergangenen Jahrhunderten hinterlassen. Sie alle sind einzigartige Zeugnisse vergangener Pracht und Herrschaft, die die Geschichte Tirols anschaulich vermitteln.

 Von der Adlerkasel aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende bis zur textilen Ausstattung der Innsbrucker Hofburg mit Wand- und Möbelstoffen aus Seidendamast und einem maschinell gefertigten Teppichboden mit orientalisierendem Muster aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist das Buch chronologisch aufgebaut. Im Hochmittelalter dominieren, entsprechend dem Machtmonopol der Bischöfe von Trient und Brixen liturgische Textilien wie etwa die aus einem spanischen Seidenstoff des 11. oder 12. Jahrhunderts mit einfachen Karomuster gefertigte Vigiliuskasel aus Altenburg oder die aus der gleichen Zeit stammenden seltenen Manipelfragmente aus dem Benediktinerstift Marienberg aus einem Lampasgewebe mit figürlichen Darstellungen und Inschriften. Im Jahre 1248, dem „Geburtsjahr“ von Tirol, siegte schließlich die weltliche Macht der Grafen von Tirol über die Hoheit der Kirchenfürsten. Brigantinen, spätmittelalterlicher Waffenschutz aus auf textiler Grundlage aufgenieteten Metallplättchen, oft mit farbigem Samt oder Brokat überzogen, sowie Sturmhauben mit textiler Applikation aus Schloss Ambras bei Innsbruck geben Zeugnis von dieser Zeit.

Das Benediktinerkloster Muri-Gries in Bozen verwahrt eine Anzahl sehr bedeutender Tapisserien aus dem 15. und 16. Jahrhundert, darunter eine Gruppe in Basel gewirkter Bildteppiche, die aus dem Besitz der aargauischen Benediktinerabtei Muri stammen. Die Geschichte, wann, wie und warum sie aus Muri nach Gries bei Bozen gelangten und wie in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts auf politischer und diplomatischer Ebene erbittert zwischen Österreich, Italien und der Schweiz um den rechtmäßigen Verbleib dieser textilen Schätze gerungen wurde, ist spannender Auftakt zur Vorstellung und Beschreibung von textilen Kleinodien, deren narrative Botschaft vor allem auf der mittelalterlichen Minnedichtung beruht. Eine Serie flämischer Tapisserien aus dem Diözesanmuseum oder die Fresken mit der Darstellung von anatolischen Teppichen des 15. Jahrhunderts an der Fassade des Palazzo Geremia, beide in Trient, sind weitere Highlights für den Textilfreund.

Das 18. bis 20. Jahrhundert ist vor allem mit Kostümen und Paramenten vertreten, wobei hier das Marienornat des Tirolers Anton Hofer, eines Schülers von Koloman Moser, als eines der bedeutendsten Werke der Sakralkunst des Wiener Jugendstils besonders hervorzuheben ist. Es stammt aus dem Jahre 1910, der Spätzeit des Sezessionsstils der Wiener Schule. Die Paramentenstiftung der Kaiserin Maria Theresia, ein reich mit Inschriften und biblischen Szenen bestickter Tischteppich von 1540 aus der Churburg oberhalb Schluderns im oberen Vinschgau oder der unter anderem wertvolle Paramente enthaltende Lorettoschatz aus dem Stadtmuseum in Klausen, der 1986 Gegenstand eines dreisten Kunstraubes war, der erst nach Jahren kriminalistischer Feinarbeit geklärt werden konnte und nun fast vollständig wieder an Ort und Stelle zu sehen ist, sind einige weitere Themen, die detailliert und anschaulich in den geschichtlichen Kontext ihrer Zeit eingebunden werden. Die seit dem 15. Jahrhundert im südlichen Teil des Trientino nachweisbare Seidenraupenzucht, die schließlich im 18. Jahrhundert mit zahlreichen seidenverarbeitenden Betrieben zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor der Region wurde, ist schließlich Anlass für eine tour de force durch die Geschichte der europäischen Seidenweberei.

Samt und Seide im Historischen Tirol ist ein ungewöhnliches Buch, das die große Liebhabergemeinde der Europaregion Südtirol und natürlich jeden Textilfreund nicht nur durch den überraschend reichen und vielfältigen Bestand an textilen Schätzen, sondern vor allem auch durch den historischen Kontext begeistern wird, durch die vielen kleinen Geschichten, Exkurse und Anekdoten, die die wechselhafte Geschichte Tirols lebendig werden lassen.

 

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