Die Fäden der Moderne – Matisse, Picasso, Miró … und die französischen Gobelins

Die Fäden der Moderne – Matisse, Picasso, Miró … und die französischen Gobelins

 

Autor/en:        Roger Diederen (Hrsg)

Verlag:           Hirmer Verlag

Erschienen:    München 2019

Seiten:            216

Buchart:         Halbleinenband

Preis:              € 39,90 (in der Ausstellung: € 29,90)

ISBN:             978-3-7774-3456-8

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Die Anfänge der Bildwirkerei verlieren sich im Dunkel der Menschheitsgeschichte. Ähnlich wie innovative Weber vor tausenden von Jahren erkannten, dass sich durch das Einknüpfen zusätzlicher Florfäden in das Grundgewebe eine dem Tierfell ähnliche Struktur schaffen lässt, ließ auch die Erkenntnis, dass sich durch Diskontinuität und Variationen des Schusseintrages Muster oder gar Bilder formen lassen nicht lange auf sich warten. In Ägypten gefundene Fragmente von Bildwirkereien aus vorchristlicher und aus koptischer Zeit sind Belege einer damals schon weit zurückreichenden Entwicklung. Für das europäische Hochmittelalter sind die Bildteppiche des 12. und 13. Jh. im Domschatz  von Halberstadt berühmte Beispiele. Arbeiten aus den Manufakturen am Oberrhein und Basel markieren im 15. und 16. Jh. ästhetische und technische Höhepunkte, bevor die Manufakturen in Brüssel für Jahrhunderte die Vorreiterrolle eingenommen haben. Für Frankreich sind im 16. Jh. die Bildteppiche mit „mille fleurs“-Motiven zu erwähnen, beispielhaft die Serie der „Dame mit dem Einhorn“ im Musée de Cluny, doch erst im 17. Jahrhundert gewinnt die Bildwirkerei unter König Ludwig XIV und der von ihm 1662 gegründeten „Manufacture des Gobelins“, benannt nach der Färberfamilie Gobelin, dauerhafte Bedeutung, bevor sie mit dem Untergang des Königtums und durch die französische Revolution in die Bedeutungslosigkeit zurückfällt.

Dass die französische Bildwirkerei, oder die Herstellung von Gobelins oder Tapisserien die Krise im 19. Jh. überdauert hat und im 20.Jh. neu belebt werden konnte ist in erster Linie dem Hang Frankreichs – gleichgültig ob Monarchie oder Republik – zu staatlicher Repräsentation zu verdanken. So bestehen die französischen Manufakturen nach dem Sturz der Monarchie als Betriebe der Französischen Republik fort. Institutionalisiert wird dies 1936 durch eine staatliche Einrichtung mit Namen „Mobilier national“, welche die Aufgabe hat, die Palais des französischen Präsidenten, allen voran den Élysée-Palast, sowie weitere wichtige Gebäude des Staates mit hochwertigen Möbeln und Teppichen aus französischer Produktion auszustatten. Unter diesem Dach sind seither unter anderen die Traditionsmanufakturen „Manufacture des Gobelins“, „Manufacture de Beauvais“ und „Manufacture de la Savonnerie“ zusammengefasst. Ihre im staatlichen Auftrag entstandenen Bildteppiche oder Tapisserien wurden zu Frankreichs Visitenkarte und stehen exemplarisch für die beanspruchte kulturelle Vorherrschaft des Landes, die Bewahrung der Handwerkskunst im Bereich der Luxuswaren und der Förderung moderner abstrakter Kunst.

Eine Ausstellung mit 63 Exponaten, überwiegend wandgroße Tapisserien, einige entsprechend bezogene Möbel sowie Studien und Entwürfe, neben wenigen Leihgaben fast ausschließlich aus den Beständen des Mobilier national, ist bis zum 8. März 2020 in der Kunsthalle München und anschließend vom 28.03. bis zum 01.06.2020 in der Kunsthal Rotterdam zu sehen. Einhundert Jahre Tapisserie, von 1918 bis heute, sind in drei Bereiche aufgeteilt. Motive unter dem Schock des ersten Weltkrieges, zum Beispiel „Die Mobilmachung“ von Louis Anquetin,  dekorative Wandteppiche wie die Serie der „Vier Jahreszeiten“ von Jean Lurçat sowie Tapisserien nationalsozialistischer Auftraggeber während der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs folgen dem traditionellen Bildaufbau dieser Kunstform, lassen aber gleichwohl Zeitströmungen wie Jugendstil, Art Nouveau oder den Größenwahn des tausendjährigen Reiches erkennen. Es folgt das Kapitel der klassischen Moderne mit Tapisserien nach Entwürfen von Henri Matisse, André Masson, Raoul Dufy, Fernand Léger, Pablo Picasso, Joan Miró, Le Corbusier, Alexander Calder, Sonia Delaunay, Yaacov Agam und Victor Vasarely, bevor der Reigen der Werke mit Wandteppichen unter anderen von Hans Hartung oder Eduardo Chillida und Beispielen des Fotorealismus, der seriellen Kunst und weiteren zeitgenössischen Ausdrucksformen ausklingt.

Der Eindruck dieser Tapisserien ist überwältigend. Es sind, wiewohl alle einem Entwurf folgend, eigenständige Schöpfungen, in denen sich das im Entwurf enthaltene Potential durch die Kunst des Webens aktualisiert und entfaltet. Die textile Materialität schafft durch ihre funktionalen Eigenschaften eine eigene Ästhetik. Es ist über die schallabsorbierende, raumgliedernde Funktion hinaus vor allem die durch die Dreidimensionalität des textilen Materials bedingte, lebendige und tiefe Farbwirkung, die die gewohnten Gattungsgrenzen von Bildern an der Wand sprengt und eine neue Dimension des Erlebens eröffnet.

Der Katalog ersetzt – wie stets – nicht den Eindruck der Originale. Doch Lithografie und Druck sind von solcher Sorgfalt, dass fast immer auch die textile Struktur erkennbar und bildbestimmend ist, vor allem in den oft doppelseitengroßen Detailabbildungen. Darüber hinaus sind die Essays über die Geschichte und Funktion der französischen Gobelinmanufakturen und deren bis heute bestehenden Unterschiede spannend zu lesen und unverzichtbar für das Verständnis dieser Kunstform. Von großem Interesse sind die detailliert beschriebenen Stufen des Herstellungsprozesses von der Wahl des Vergrößerungsmaßstabes, der Entscheidung für die Webrichtung und dem Verhältnis von Kett- und Schussfäden oder ob Hoch- oder Flachwebstühle verwendet werden. Entscheidend für das Ergebnis aber sind die Farben der verwendeten Woll- oder – seltener – Seidenfäden. Seit 1911 werden für den in den Manufakturen vorgenommenen Färbeprozess keine Naturfarbstoffe mehr verwendet. Die Farbmusterpalette umfasst mehr als 15.000 Farben, die in drei Kategorien, Tonalität, Klarheit und Sättigung zur Verfügung stehen, ein Arsenal, das jeder Nuance der malerischen Vorlage gerecht werden kann.

Die mit Ausstellung und Katalog ungewöhnliche und einzigartige Präsentation einer alten und im 20. Jahrhundert neu belebten Handwerkskunst an der Schnittstelle zwischen Malerei und textiler Meisterschaft sollte man sich keinesfalls entgehen lassen.

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