Textiles of India – Die N2H Collection

Textiles of India – Die N2H Collection

 

Autor/en:        Heidi und Helmut Neumann

Verlag:           Prestel Verlag

Erschienen:    München London New York 2020

Seiten:            448

Buchart:         Leinen mit Schutzumschlag

Preis:              € 85,00

ISBN:             978-3-7913-8685-0

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Saris aus Baluchar, einer Region im Dunstkreis der Stadt Mushidabad im indischen Bengalen gelten unter Kennern wegen ihrer harmonischen Farben, der glänzenden Seide und vor allem wegen der in einem hochkomplizierten Webverfahren gewonnenen Textur des Stoffes, seiner Fülle und Leichtigkeit, als das non plus ultra unter den gemusterten indischen Seiden. Typisch für diese Baluchar sind miniaturhafte Darstellungen in den pallav genannten Endbereichen der zwischen 4 und 5 Meter langen Saris. Sie zeigen elegante Damen und Herren aus der indischen Aristokratie und der britischen High Society bei unterschiedlichen Aktivitäten und in wechselndem Ambiente. Man weiß, dass diese außergewöhnlichen Textilien seit dem Anfang des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hergestellt wurden, doch Kriterien für eine genauere Datierung einzelner Exemplare hat die Fachwelt bisher vergeblich gesucht. Heidi und Helmut Neumann haben einen wichtigen Beitrag zur Lösung dieses Rätsels geleistet. Ein genauer Vergleich aller 48 in ihrer Sammlung vorhandenen Baluchar Saris ergab nämlich, dass die Miniaturen unter anderem auch unterschiedliche Arten des Reisens in Indien zeigen: per Elefant, zu Pferd, mit Kutsche, aber auch mit der Eisenbahn. Auf einigen Miniaturen sieht man unverkennbar Details dampfbetriebener Lokomotiven und doppelstöckige, mit Haken aneinander zu kuppelnde Waggons. Da man weiß, dass die erste Eisenbahn in Bengalen ihren Betrieb im Jahre 1854 aufnahm, ist für manche dieser Textilien eine Datierung „post quem“ nun jedenfalls möglich.

Diese kleine story soll hier stellvertretend für die bewundernswerte Sorgfalt und Fachkenntnis stehen,  mit der Heidi und Helmut Neumann 136 ausgesuchte Exemplare ihrer weltweit wohl einzigartigen Sammlung etwa 700 indischer Textilien vorstellen und beschreiben. Das Buch im repräsentativen Großformat von 26,5 x 35 cm ist ein Kompendium einer der ältesten und vielfältigsten Textiltradition der Welt, eine Reise durch den Subkontinent vom hohen Norden bis in seinen tiefen Süden, begleitet von Helmut Neumanns perfekten Textilfotos, viele davon als präzise Detailaufnahmen, die Einblick in Techniken und Struktur gewähren. Die soeben vorgestellte Neuerscheinung ist vor allem über ihre unzweifelhafte Bedeutung als wichtiges und zeitloses Standardwerk zum Thema indischer Textilien hinaus ein Buch von Sammlern über ihre Sammlung, wie es spannender und unterhaltsamer nicht sein kann. Es bestätigt in bester Art und Weise, dass eine mit Kennerschaft und Liebe zusammengetragene Sammlung stets mehr ist als die Summe der einzelnen Objekte. Heidi und Helmut Neumann lassen den Leser teilhaben an ihrer Entdeckung und der wachsenden Begeisterung für dieses faszinierende Sammelgebiet, beschreiben wie persönliche Begegnungen mit Wissenschaftlern und Händlern die Leidenschaft lenken und vertiefen und wie wichtig es ist, durch Reisen das Land und seine Menschen kennen zu lernen. Hinzu kommen kleine Geschichten und Anekdoten, wie sie untrennbar mit der einen oder anderen Erwerbung verbunden sind und manch persönlicher, dabei oft überraschender Kommentar, der die Beschreibung eines Objekts weiterführend ergänzt.

In zwölf ausführlichen Kapiteln wird die Vielfalt und Geschichte indischer Textilkunst ausgebreitet. Jedes Kapitel behandelt eine spezielle Gruppe von Textilien und wird eingeleitet mit ihrer Geschichte, den textilen Techniken, typischen Mustern, ihrem Gebrauch und ihren ästhetischen Qualitäten. Eine natürliche Altersgrenze diktiert hierbei das indische Klima, das im Lande selbst Textilien trotz der ca. 6000 Jahre zurückreichenden Tradition kaum älter als 200 Jahre werden ließ. Erstaunlich genug also, dass sich ausgerechnet in Indonesien, die ältesten indischen Textilien, bemalte und bedruckte Baumwollstoffe als Fragmente, oft aber auch vollständig erhalten haben. Ihr Alter reicht, radiocarbondatiert, bis ins 14. Jahrhundert zurück. Ihr offensichtlich kultischer Gebrauch und dementsprechend sorgfältige Bewahrung haben diese in Muster und Farbgebung eindrucksvollen Stoffe über Jahrhunderte erhalten; sie bilden in der Sammlung Neumann eine bedeutende und kostbare Gruppe. Nur wenig jünger sind Lampas-Gewebe aus Seide, die sich in dem trockenen und schädlingsfreien Klima tibetischer Klöster und Tempel erhalten haben. Sie sind das einzige Zeugnis eines textilen Luxus, der aus den indischen Sultanaten oder auch vom Hofe der Mogul-Kaiser sonst nur in Miniaturen oder in Texten europäischer Reisender überliefert ist. Eine weitere, bedeutende Gruppe, zu der die wohl attraktivsten  und bekanntesten indischen Textilien gehören, sind die Patolas, aufwändige und unglaublich präzise ausgeführte Doppel-Ikat-Gewebe, begehrt vor allem mit Löwen- und Elefantendarstellungen. Auch hier haben sich die frühen Exemplare aus dem 18. oder gar 17. Jahrhundert nicht in Indien, sondern in Indonesien erhalten. Diesen klassischen, extrem seltenen und in ihrer Schönheit oft als Unikate oder Beste ihrer Art zu bezeichnenden Stücken folgen Gruppen aus regionalem, bäuerlichem oder nomadischem Umfeld wie etwa die feinen und erzählenden Rumal-Stickereien aus Himachal Pradesh, gequiltete und bestickte Decken, so genannte Kanthas, aus dem ländlichen Bengalen oder die große Gruppe reservegefärbter Seiden- und Baumwollstoffe, vorwiegend aus Gujarat. Reich gestickte Pulkhari und Bagh aus dem Punjab und weitere lokale Sticktraditionen aus Gujarat runden das Bild, bevor bemalte Baumwollgewebe als Tempelbehänge für den Krishnakult den Blick in andere Bildwelten weiten.

Diese Rezension wäre unvollständig ohne eine Würdigung des Vorworts von Rosemary Crill, der langjährigen Kuratorin für Indien am Victoria & Albert Museum und wohl erfahrensten Expertin für indische Textilien. Ihre bis in prähistorische Zeiten zurückreichende Geschichte der Textilkunst in Indien und deren Bedeutung für alle Bereiche der indischen Gesellschaft von nomadisierenden Stämmen bis zu den Höfen von Fürsten und Königen ist der ideale Einstieg in die Sammlung von Heidi und Helmut Neumann. Last not least ist die der außergewöhnlichen Qualität der Kollektion entsprechende noble Buchgestaltung durch Misha Anikst und das HALI-Publications-Team unter Danny Shaffer  besonders hervorzuheben.

Print Friendly, PDF & Email