Shahzia Sikander – Extraordinary Realities

Shahzia Sikander – Extraordinary Realities

 

Autor/en:        Sadia Abbas, Jan Howard (Hrsg)

Verlag:           RISD Museum, Hirmer Verlag

Erschienen:    Providence und München 2020

Seiten:            152

Buchart:         Flexobroschur

Preis:              € 39,90

ISBN:             978-3-7774-3559-6

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Ende des 16. Jahrhunderts war Lahore unter Kaiser Akbar dem Großen die Hauptstadt des Mogulreiches. Unter den vielen vom Hof geförderten Künsten ist vor allem die Miniaturmalerei hervorzuheben, mit der berühmte Künstler kostbare profane Handschriften mit narrativen Bildern aus Mythologie und Legende aber auch mit Szenen aus der höfischen Repräsentation illustrierten. Miniaturen aus jener Zeit gehören heute zu den großen Schätzen westlicher Sammlungen und Museen. Emil Preetorius war ein großer Verehrer und Kenner dieser Kunstform und seine kleine aber exquisite Sammlung islamischer Miniaturen wird im Münchner Museum Fünf Kontinente, vormals Staatliches Museum für Völkerkunde, verwahrt.

Vierhundert Jahre später, 1969, die islamische Miniaturmalerei war längst zur Routine und gefälligen Touristenware verkommen, wurde Shahzia Sikander in Lahore in eine vermögende pakistanische Familie geboren und entschied sich als 18-jährige unter dem Eindruck von Bashir Ahmed, einem Bewahrer dieser traditionellen Kunstform, für ein Studium der als antiquiert angesehenen Miniaturmalerei am National College of Arts in Lahore.. Keine drei Jahre später legte sie mit „The Scroll“ ihre Masterarbeit vor und löste eine Lawine aus. „The Scroll“, ein von safawidischen Miniaturen inspiriertes Rollbild, das sie selbst immer wieder als schemenhaftes Wesen in ihrem in vielfältigen Ebenen und Perspektiven dargestellten Elternhaus zeigt, transformiert den klassischen Miniaturstil in eine moderne Zeit und eröffnete in Pakistan ein Revival der Miniaturmalerei. Shahzia Sikander  wurde zur Pionierin und auch Dozentin einer neuen Kunstform und schon bald, 1993, erreichte sie mit ihrem ersten Auslandsauftritt, einer Ausstellung in der pakistanischen Botschaft in Washington DC, eine Bühne, die ihr Leben verändert und ihr Werk geprägt hat.

In der Begegnung mit der zeitgenössischen westlichen Kunst, zunächst von 1993 bis 1995 in der RISD (Rhode Island School of Design) in Providence und dann (1995 bis 1997) in der Glassell School of Arts am Museum of Fine Arts in Houston/Texas, entwickelte Shahzia Sikander eine an der klassischen Kunst der Miniaturmalerei orientierte zeitgenössische Kunstrichtung, die sich jeder gängigen Kategorisierung zu entziehen scheint und die sie rasch zu einer in den USA prominenten und gefeierten Künstlerin machte. Die Themen ihres Schaffens entsprechen dem Zeitgeist; koloniale und postkoloniale Geschichte, Rassismus, Fragen der kulturellen Identität und Gewalt finden Ausdruck, vor allem aber sind es Genderprobleme, Feminismus, Sexualität und die Rolle der Frau, die in ihrem Werkschaffen eine dominierende Rolle spielen. Doch bei all diesen in der zeitgenössischen Kunst allgegenwärtigen Themen verliert die Künstlerin mit der Übernahme formaler Strukturen oder mit mehr oder weniger deutlichen Zitaten aus klassischen Miniaturen nie den Boden der sie prägenden Kunst der Miniaturmalerei, die, sei es nun vordergründig oder auch  nur versteckt in Details stets erkennbar ist. Shahzia Sikander hat in dem ihr eigenen Dialog zwischen zeitgenössischer Kunst und Miniaturmalerei eine ganz eigene und neue Sprache gefunden, eine Bildsprache, die so gegensätzliche Strömungen wie Realismus, Symbolismus, Illusionismus und Surrealismus auf faszinierende Weise zu vereinen vermag. Zahllose Ausstellungen, vor allem in den USA, Auszeichnungen und Publikationen begleiten den Weg der in New York lebenden und schaffenden Künstlerin, die sich zunehmend auch in den künstlerischen Medien Performance, Installation, Video und Film einen Namen gemacht hat.

In Europa, in Deutschland ist Shahzia Sikander kaum bekannt. Die Chance, dass sich das ändert ist mit einem großartigen Buch gegeben, das soeben beim Hirmer Verlag in München in englischer Sprache erschienen ist. Das Buch – eigentlich ein Katalog – wird eine Ausstellung begleiten, die als eine Art Retrospektive den ersten fünfzehn Jahren ihres künstlerischen Schaffens gewidmet ist und die, beginnend im Juni 2021 in New York (Morgan Library and Museum) auch in Providence (RISD Museum) und in Houston (Museum of Fine Arts) zu sehen sein wird. Es ist ein gemeinschaftliches Werk von Lehrern und Professoren, die den Weg der Künstlerin begleitet haben, darunter auch Bashir Ahmad aus Lahore, der Shahzia Sikanders Talent als Miniaturmalerin zur Reife und Blüte gebracht hat. Kunsthistoriker und Kuratoren berichten und analysieren die Begegnung der jungen Miniaturmalerin mit der zeitgenössischen Kunst und wie aus diesem Aufeinandertreffen ein Dialog und schließlich eine neue Bildsprache erwuchs. Vor allem aber kommt Shahzia Sikander selbst zu Wort und erzählt anschaulich über ihre Ankunft und ihr Zurechtfinden in einer neuen Welt und in einer Kunst, die so ganz anderes funktioniert als alles, was sie in Lahore gelernt hat und wie sie mit ganz neuen Techniken und Arbeitsweisen Wege fand, ihre künstlerische Grundlage mit dem Neuen zu verbinden. Natürlich ist, mehrfach ausklappbar, ihre legendäre Arbeit „The Scroll“ zu sehen, aber auch schon zuvor entstandene Miniaturen, die in perfekter altmeisterlicher Qualität bereits aktuelle Inhalte vermitteln. Die Auseinandersetzung mit dem Neuen, die Suche nach dem Kompromiss und das Ergebnis der gelungenen Synthese zwischen Miniatur und zeitgenössischer Kunst wird mit reichem Bildmaterial bestens dokumentiert. Zu wünschen bleibt dann nur noch, dass nach diesem Buch auch Shahzia Sikander selbst und ihr großartiges Werk in Europa, in Deutschland Einzug halten. Die Übernahme der ohnehin zum Wandern vorgesehenen Ausstellung ist hier der Vorschlag des Rezensenten.

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