Berber Memories – Women and Jewellry in Marocco

Berber Memories – Women and Jewellry in Marocco

 

Autor/en:        Michael Draguet, Nathalie de Merode

Verlag:           Mercatorfonds, Yale University Press

Erschienen:    Brüssel, New Haven, London 2021

Seiten:            600

Buchart:         Leinen mit Schutzumschlag

Preis:              € 79,95

ISBN:             978-0-300-25395-5 (Yale), 978-94-6230-231-0 (Mercatorfonds)

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Sammeln ist ein Phänomen, das sich jeglicher Kategorisierung entzieht; zu unterschiedlich sind die Objekte dieser weit verbreiteten Leidenschaft. Wie wollte man etwa die Kunst- und Wunderkammer von Kaiser Rudolf II (1552-1612) in Prag, in der alles zu finden war, was zu seiner Zeit als exotisch angesehen wurde, mit der Käfersammlung von Ernst Jünger vergleichen oder die von Karl Lagerfeld in seinem langen Leben zusammengetragene Sammlung von Kunstbänden mit der mittlerweile zum Staatsschatz aufgewerteten, kaum überschaubaren Automobilsammlung der Gebrüder Schlumpf in Mülhausen, von allerlei ausgefallenen und skurrilen Sammlungsgegenständen ganz zu schweigen? Gäbe es denn eine Art Rangliste bedeutender Sammlungen und ihrer Sammler (es gibt sie nicht!), so müsste das belgische Ehepaar Baron Roland Gillion Crowet und seine Frau Anne-Marie einen der vorderen Plätze einnehmen. Da ist zunächst deren einzigartige Sammlung von Objekten aus der Zeit der Art Nouveau, die das Musée Fin de Siecle in Brüssel zu einem Mekka dieser Kunstepoche macht und dann vor allem die von Anne-Marie Gillion Crowet in zwei Jahrzehnten aufgebaute Sammlung von Kopfjägerschmuck der Naga, die an Umfang und Ästhetik weltweit ihresgleichen sucht (Naga – Awe Inspiring Beauty, 2018 an dieser Stelle rezensiert). Wäre das nicht schon genug, setzt die nun publizierte, atemberaubend schöne und umfangreiche Sammlung von Berberschmuck mit weit über 400 Objekten, die in einem halben Jahrhundert mit Engagement und Sachverstand zusammengetragen wurde, ein Highlight, das sowohl als Sammlung wie auch als Buch, als das sie nun dem Publikum vorliegt, nicht mehr zu übertreffen ist.

Das Institut du Monde Arab in Paris besitzt mit über 1.700 Fotos und Zeichnungen mit den zugehörigen Dokumentationen des französischen Ethnologen, Malers und Fotografen Jean Besancenot einen einzigartigen ethnographischen Schatz. Die Fotos von marokkanischen Frauen in ihren Trachten und mit traditionellem Schmuck sind in den Jahren 1934 bis 1939 entstanden, als Besancenot auf zahlreichen Forschungsreisen mit Faszination, Liebe und Professionalität die Heimat der Berberfrauen, die Dörfer an den Hängen und in den Tälern des Rif- und Atlasgebirges in Marokko erkundete. Diesen Schatz, zusammen mit weiteren Fotos aus der Zeit des französischen Marokko-Protektorats, mit zeitlosen Ansichten marokkanischer Landschaften, mit Bildern des Malers Jacques Majorelle, dem gewaltigen Korpus des marokkanischen Silberschmucks, perfekt vor einem kontrastierenden, dunklen Hintergrund von Paul Louis fotografiert und einem locker, kenntnisreich und engagiert geschriebenen Beitrag über Herkunft und Geschichte der Berber aus der Feder des Kunsthistorikers und Direktors der Musées royaux des Beaux-Arts in Belgien, Prof. Michel Draguet, haben die Sammlerin Anne-Marie Gillion Crowet und ihre Tochter Nathalie de Merode zu einem bibliophilen Denkmal einer Kultur komponiert, deren Untergang durch Globalisierung und Tourismus leider nicht mehr aufzuhalten ist.

Auch wenn die Wurzeln der Berber und ihrer im Ursprung nomadischen Kultur noch nicht restlos entschlüsselt sind, so gelten die Berberstämme doch als die ältesten Bewohner des nordafrikanischen Maghreb. Sie haben Einflüsse von Invasoren, etwa von den Phöniziern, den Römern, den Vandalen aber auch von dem in frühen Zeiten noch nicht durch eine lebensfeindliche Wüste getrennten Schwarzafrika in ihre Kultur aufgenommen. Vor allem aber wurden sie durch die nur wenige Jahre nach dem Tod des Propheten einsetzende arabische Eroberung Nordafrikas und die damit einhergehende Islamisierung und einen wachsenden Anteil jüdischer Siedler geprägt. Die christliche Rückeroberung Spaniens tat ein Übriges, um mit muslimischen und jüdischen Flüchtlingen kunsthandwerkliche Techniken und Fertigkeiten zu erweitern und die Bedeutung ebenso wie die Vielfalt von Schmuck zu einem Pfeiler der Kultur der Berber zu machen.

Nun sind die Berber eine nach außen deutlich von Männern dominierte Gesellschaft. Doch dies ist eine sehr vordergründige Sichtweise denn weite Bereiche des Lebens, die mündliche Überlieferung von Sagen und Mythen, Riten und Rituale für die Wendepunkte des Daseins, wie Geburt, Hochzeit und Begräbnis, wichtige kreative Tätigkeiten wie Weben oder Sticken und schließlich der ganze Kosmos des Schmucks bis zur rituellen Bemalung mit Henna sind und waren eine Domäne der Frauen. Ihr Schmuck repräsentierte nicht nur die finanzielle Reserve der Familie, er war auch Symbol für kulturelle Identität und sozialen Status, Schutzgegenstand für die allfällige Bedrohung durch Böses und Geister und eine Spielwiese für unbegrenzte Kreativität und für die Einflüsse angrenzender Kulturen. Und hier gewährt die Sammlung Gillion Crowet einen kaleidoskopartigen Einblick in eine faszinierende Vielfalt von Formen, Techniken und Dekoren von Kopfschmuck, Ringen, Amulettbehältern, Armbändern, Ketten, Diademen und dergleichen mehr. Eingeteilt in sieben geographische Regionen vom Rifgebirge über die westlichen Küstenregionen, den Mittleren, den Hohen und den Antiatlas, die Flusstäler von Drâa und Dadès bis zur Kette von Oasen am Rande der Sahara werden die Besonderheiten von Material und Dekor, die Verwendung von Korallen, Steinen oder Münzen und die Techniken vom Guss in der verlorenen Form, Email oder Niello eingehend gezeigt und beschrieben. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt bei den attraktiven, meist aus einer Vielzahl unterschiedlichster Elemente komponierten Halsketten, vor allem aber – und das ist ohne Zweifel auch der Höhepunkt von Sammlung und Buch – aus den für marokkanischen Schmuck so typischen silbernen Gewandfibeln, die hier in weit über einhundert Exemplaren, einzeln oder paarweise eine schier unglaubliche Vielfalt demonstrieren – ein großes Fest für die Augen, das über die Unhandlichkeit des fast 5 Kilogramm schweren Bandes hinwegtröstet.

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